Stellungnahme zum Nationalen Aktionsplan „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ im Entwurf (Stand: 12.05.2023)

Für die Möglichkeit zur Stellungnahme zu dem o.g. Entwurf möchte die BAG SELBSTHILFE herzlich danken. Als Dachverband von 125 Bundesorganisationen der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen und von 13 Landesarbeitsgemeinschaften nehmen wir zu dem Entwurf wie folgt Stellung:

1.     Zielsetzung des Entwurfes:

Die BAG SELBSTHILFE begrüßt die Zielsetzung dieses Entwurfes, dass mit dem NAP „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ die am 14.06.2021 einstimmig von den Mitgliedsstaaten beschlossene Empfehlung zur Einführung einer EU-Kindergarantie in Deutschland nunmehr umgesetzt werden soll.

Dabei liegt der Fokus dieses Aktionsplanes auf bedürftige Kinder mit dem Ziel, den Kreislauf der Armut zu durchbrechen und zu verhindern, dass Kinder, welche in Armut aufwachsen, zu armutsgefährdeten Erwachsenen werden. Zu der Gruppe der bedürftigen Kinder zählt insbesondere auch die Gruppe der chronisch kranken und behinderten Kinder, welche einen besonders großen Personenkreis darstellen. Insoweit muss nach unserem Dafürhalten der vorgelegte Entwurf die für diese Gruppe erforderlichen Maßnahmen auch gesondert in den Blick nehmen.

Im Weiteren bedeutet dies, dass auch die spezifischen Lebenslagen von chronisch kranken und behinderten Kindern und ihrer Familien einer besonderen Betrachtung bedürfen, und zwar unabhängig davon, dass der vorliegende NAP-Entwurf im Rahmen seiner benannten Handlungsfelder auch Maßnahmen zur Förderung der Inklusion und zur Verhinderung sowie Bekämpfung von Diskriminierung und Stigmatisierung bedürftiger Kinder fordert.

2.     Ergänzungsbedarf aus Sicht der BAG SELBSTHILFE:

Allerdings besteht nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE und ihrer Mitgliedsverbände Ergänzungsbedarf in folgenden Punkten:

a) Querschnittsthema Corona Pandemie:

Der vorliegende Entwurf erwähnt zwar, dass anlässlich der Ausarbeitung eines Konzeptes zur Umsetzung der EU-Kindergarantie auch die Erfahrungen der Corona Pandemie mit eingeflossen sind in dem Sinne, dass die pandemiebedingten Einschränkungen bei Kita und Schulbesuch sowie bei den Betreuungs- und  Unterstützungsangeboten insbesondere die Kinder und Jugendlichen, die schon zuvor benachteiligt waren, hart getroffen und noch weiter zurückgeworfen hätten, allerdings ist in diesem Kontext klarstellend anzumerken, dass insbesondere Unterstützungssysteme für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in Kindertagesstätten und Schulen im Jahr 2020 weitgehend weggebrochen sind. Ferner musste bis in das Jahr 2021 das Recht auf Bildung und Teilhabe in Bezug auf ein Angebot von angemessenem und barrierefreiem Distanzunterricht, auf Assistenz, Schülerbeförderung einschließlich auf Teilhabe am Unterricht immer wieder aufs Neue individuell erstritten werden.

Ferner war nach den Teilöffnungen der Schulen für einige Schüler und Schülerinnen mit Behinderungen gar keine Beschulung mehr möglich. Auch im Hochschulbereich zeigt sich unseres Erachtens ein enormer Nachholbedarf bei der inklusiven Gestaltung von Online-Lehr und Lernangeboten; dies betrifft insbesondere Fragen der kommunikativen sowie didaktischen Barrierefreiheit.

b) Inklusive Kinder- und Jugendhilfe:   

Leistungen zur Teilhabe für junge Menschen mit Behinderungen können u.a. über die Kinder- und Jugendhilfe, über die Eingliederungshilfe sowie über das Gesundheitssystem erbracht werden. Diese vorhandene Differenzierung der Teilhabeleistungen nach Art der Behinderung erschwert den Zugang. Unseres Erachtens wird die seit dem Jahr 2022 geltende Vorgabe einer inklusiven Angebotslandschaft in der Kinder- und Jugendhilfe nicht umgesetzt, so fehlt es insbesondere an Kenntnissen von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe zu behinderungsspezifischen Belangen.

Es fehlen nach wie vor bundesweit barrierefreie Spielplätze, welche zukünftig so auszugestalten sind, dass sie für alle Kinder und deren Begleitpersonen problemlos zugänglich und erlebbar sind. Auch was die Planung und Gestaltung von Schulhöfen sowie Aktionsflächen für Jugendliche wie Skateanlagen oder Streetballflächen angehen, so sollten die Aspekte des inklusiven Spielens stärker als bisher berücksichtigt werden, gerade um auch die in Deutschland gültige UN-BRK zu verwirklichen. Es sollte insoweit in diesem Entwurf auch auf die besondere Wichtigkeit inklusiver Spielräume hingewiesen werden.

Anzumerken ist ferner, dass mangelnde Barrierefreiheit sowie mangelnde Assistenz für junge Menschen mit Behinderungen vielfach zum Ausschluss aus Angeboten der Jugendarbeit führen.  

Eltern von Kindern mit Behinderungen werden für Assistenzleistungen bzw. für stationäre Hilfe zur Erziehung ihrer minderjährigen Kinder mit ihrem Einkommen und Vermögen herangezogen, mit der Folge, dass Kindern und jungen Menschen mit Behinderungen sehr oft der Zugang zu inklusiven Freizeitangeboten verwehrt bleibt.

Insoweit können Kinder und Jugendliche mit Behinderungen unserer Ansicht nach immer noch nicht gleichberechtigt mit anderen Kindern ihre Rechte aus Art. 31 UN-KRK (UN-Kinderrechtskonvention) wahrnehmen.

c) geflüchtete Kinder und Jugendliche mit Behinderungen:

Auch ist nach wie vor nicht bekannt, wie viele begleitete und unbegleitete geflüchtete Kinder mit Behinderungen in Deutschland leben. Die Bedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen divergieren in einem erheblichen Maße, auch Barrierefreiheit wird oftmals nicht beachtet. Die Wohnsitzverpflichtung für Kinder mit Behinderungen führt zur Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit. Ferner existiert kein gleichberechtigter Zugang zum Bildungs-, Betreuungs- und Gesundheitssystem, sowie zu Kultur- und Freizeitangeboten. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass insbesondere kriegs- und fluchttraumatisierte Kinder unterversorgt sind.

d) Kinderschutz:

Was den Kinderschutz angeht, so fehlt es bislang in der Kinder- und Jugendhilfe an barrierefreien und bedarfsgerecht gestalteten Schutzeinrichtungen und Diensten. Zudem benötigen Kinder und Jugendliche nicht nur einen barrierefreien Zugang zu externen Beschwerdestellen, sondern auch die Ombudsstellen in der Kinder- und Jugendhilfe müssen sich für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen zukünftig öffnen.

e) Kinder mit Eltern mit Behinderungen:

Die im Bundesteilhabegesetz kodifizierte Elternassistenz ist zwar als positiv zu werten, allerdings führen Umsetzungshürden in der Praxis immer noch zu Trennungen der Kinder von Eltern mit Behinderungen, wie z.B. mit Lernschwierigkeiten. Ferner fehlt es nach wie vor an qualifizierten Informationen für Eltern mit Behinderungen, etwa zur Familienplanung und Elternschaft. Auch fehlt es an qualifizierter Assistenz am Wohnort und die Beantragung ist oftmals sehr mühselig. Ferner erhalten Eltern die Leistung erst, wenn andere Hilfen beantragt oder abgelehnt wurden.

Es müssen somit Erleichterungen für Eltern mit Behinderungen geschaffen und vorhandene Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Eingliederungs- und Jugendhilfe bei der Inanspruchnahme von Elternassistenz beseitigt werden.

f) Herstellung einer einheitlichen Kindergrundsicherung:  

Ausweislich des Kinderreports Deutschland 2022 ist jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut betroffen. Das Erleben von Armut ist in diesem Kontext nicht nur geprägt durch materielle Not, sondern auch durch gesellschaftlichen Ausschluss. Die Einkommensarmut wirkt sich allerdings dem Kinderreport Deutschland 2022 zufolge auf die Gesundheit, die Bildungskarrieren, die soziale Teilhabe und damit auf die Zukunftschancen von Kindern aus.

Im Rahmen des Entwurfs des Nationalen Aktionsplanes „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ wird u.a. auf die Schaffung der einheitlichen Kindergrundsicherung abgestellt. Wir erachten es für sinnvoll, wenn auch im Rahmen der Stellungnahme zum Nationalen Aktionsplan (NAP) angemahnt wird, sicherzustellen, dass etwaige bisherige finanzielle Entlastungsmöglichkeiten gerade für Familien mit behinderten Kindern bestehen bleiben müssen. Hier ist insbesondere sicherzustellen, dass der Kindergeldanspruch für Eltern mit erwachsenen behinderten Kindern keinesfalls wegfallen darf.

Durch die Konzeption einer einheitlichen Kindergrundsicherung darf sich die bisherige Rechtslage nicht verschlechtern, was nach unserem derzeitigen Kenntnisstand weiter unsicher erscheint. Daher sind hierzu eindeutige gesetzliche Regelungen notwendig. Ebenso halten wir es an dieser Stelle für sinnvoll, wenn klargestellt wird, welche Struktur die Leistungen insgesamt erhalten sollen. Eine einheitliche sozialrechtliche Leistung erscheint hier weniger bürokratisch und damit zur Vereinfachung beizutragen.

Im beigefügten Entwurf des NAP werden zudem zwar Kinder mit Behinderungen ebenso wie pflegende Kinder ausdrücklich genannt (vgl. S. 16/ 21), allerdings fehlen konkrete auf diese Kinder speziell zugeschnittene politische Strategien und Maßnahmen; dies sollte insoweit gefordert werden. Was die Digitalisierung angeht, so muss immer sichergestellt werden, dass auch nicht digitale Antragstellungen möglich bleiben müssen und die Barrierefreiheit insgesamt zu gewährleisten ist.

g) Bildungseinrichtungen:

Zahlreiche Studien belegen, dass insbesondere armutsbetroffene Kinder, Kinder mit Behinderungen sowie auch mit Migrationshintergrund im Bildungsbereich strukturell benachteiligt werden. Insoweit ist es dringend angezeigt, die tatsächlichen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen mit Blick auf Bildung und Teilhabe umfassend und realitätsbezogen neu zu ermitteln. In diesem Zusammenhang ist unerlässlich, dass Zugangshürden beim Leistungsbezug abgebaut werden, indem erfolgreich erprobte Instrumente wie z.B. Kinder-Teilhabepässe bzw. Kinder Teilhabe-Apps, zentrale Anlaufstellen für Familien und kommunale Präventionsnetzwerke stärker evaluiert, gefördert und bundesweit abgesichert werden.

Des Weiteren ist festzustellen, dass inklusive Schulen bisher nicht flächendeckend vorhanden sind und die Aufnahme meistens auf bestimmte Behinderungen oder eine individuelle Auswahl beschränken. In der gelebten Wirklichkeit haben Eltern in vielen Bundesländern die „Wahl“ zwischen einer Sonderschule sowie einer schlechter erreichbaren, schlechter ausgestatteten und unzureichend entwickelten „inklusiven“ Schule. Eine Information, Aufklärung, Beratung oder auch Ermutigung von Eltern zu inklusiver Bildung findet weitestgehend nicht statt.

Zudem werden inklusive Schulen auch nicht transparent erfasst, die Zahl der Schüler:innen an Förderschulen ist je nach Bundesland und Förderschwerpunkt konstant bzw. sogar steigend, insbesondere für Schüler mit Lernschwierigkeiten, körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen. Ferner resultieren hohe „Inklusionsraten“ der Bundesländer aus einer immens gesteigerten Zuschreibung „sonderpädagogischer Förderbedarfe“ an Schülern allgemeiner Schulen.

Anzumerken ist auch, dass die Mehrheit der Landesregierungen das Sonderschulsystem als vermeintlich bessere Alternative für viele Kinder mit Behinderungen aufrechterhält. Es wird in diesem Kontext auf ein angebliches „Elternwahlrecht“ verwiesen. Kinder müssen im Hinblick auf ihre Bedarfe gefragt werden, um inklusiv an Bildung teilhaben zu können. Unseres Erachtens ist der Rechtsanspruch auf eine inklusive Schulbildung in den meisten Bundesländern mit Vorbehalten versehen. Auch ist zu erwähnen, dass Schüler:innen mit Behinderungen nach wie vor geringe Chancen haben, einen anerkannten Schulabschluss sowie eine Berufsausbildung zu erlangen.

Für ein gleichberechtigtes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen ist somit unabdingbar ein partizipatives und bedarfsgerechtes Bildungssystem in allen Bundesländern, welches barrierefreie Übergänge von der Kindertagesbetreuung in das Schulsystem und später in die Berufswelt ermöglicht. Mitzudenken in diesem Zusammenhang ist darüber hinaus auch das weitere Lebensumfeld von Kindern, wie Spielorte und -flächen, Treffpunkte sowie qualitativ gute Freizeitangebote.

Voraussetzung dafür ist jedoch unseres Erachtens auch die Zusammenarbeit aller föderalen Ebenen, vom Bund über die Länder bis hin zu den Kommunen, insbesondere hat auch der Bund hier eine koordinierende Aufgabe wahrzunehmen.

h) bezahlbarer Wohnraum:

Für eine gelingende Kinderarmutsprävention muss im Weiteren auch bezahlbarer und bedarfsdeckender Wohnraum für Familien geschaffen und erhalten werden. Hierfür braucht es auch dringender Investitionen in den sozialen Wohnungsbau sowie in die Stadtentwicklung. Die Praxis zeigt deutlich, dass Kinder in schwierigen Wohnsituationen weniger Sozialkontakte haben und sich mit zunehmendem Alter seltener draußen aufhalten bzw. Angebote im Umfeld weniger nutzen. Innerhalb der Städte konzentrieren sich einkommensschwache Haushalte und Kinderarmut zunehmend in einzelnen Stadtteilen, welche sich durch hohe Umweltbelastungen sowie weniger Grünzonen und Spielflächen für Kinder auszeichnen. Es muss daher auch Ziel sein, neben einer partizipativen Stadtgestaltung und -entwicklung eine stärkere Durchmischung der Quartiere zu erreichen.

i) Partizipation:

Ausweislich des vorliegenden Entwurfes zum NAP „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ sollen zwar benachteiligte Kinder und Jugendliche sowie ihre Familien über die sie vertretenen Organisationen in die Begleitung sowie in die Fortschreibung des NAP angemessen eingebunden werden mit dem Argument, „die Expertise der Kinder und Jugendlichen stelle einen wichtigen Beitrag dar, um eine zielgruppengerechte und wirkungsvolle Ausgestaltung der bestehenden und zukünftigen NAP-Maßnahmen zu gewährleisten. Kinder und Jugendliche sollen die Möglichkeit erhalten, ihre Bedürfnisse, Wünsche und Unterstützungsbedarfe zu äußern und Rückmeldung zur Umsetzung des NAP zu geben.“

Allerdings ist in diesem Zusammenhang auch klar festzuhalten, dass die Partizipation von Menschen mit Behinderungen einschließlich junger Menschen über die sie vertretenen Organisationen de facto nach wie vor ungenügend ist. Es gibt bisher keine Beteiligungsstandards, obwohl der Deutsche Behindertenrat (DBR) bereits 2018 und 2022 seine Forderungen hierzu vorgelegt hat. Insoweit sollte in diesem Entwurf explizit die Forderung aufgenommen werden, dass auch junge Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen zukünftig noch mehr Partizipation in sozialpolitischen- und gesundheitspolitischen Prozessen erfahren.

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die Entscheidungsträger:innen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in der Pflicht stehen, die junge Generation in ihrer gesellschaftlichen Partizipation zu stärken. Ausweislich des Kinderreports Deutschland 2022 bedeutet dies im Weiteren, dass endlich auch eine Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz zu erfolgen hat sowie auch eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre durchzusetzen ist, um die Teilhabe junger Menschen an der politischen Willensbildung zu stärken.

j) Ausblick:

Ziel des vorliegenden Entwurfes eines Nationalen Aktionsplans „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ ist die Umsetzung der EU- Kindergarantie in Deutschland auf Grundlage der Empfehlung des Rates der Europäischen Union zur Einführung einer EU-Kindergarantie vom 14.06.2021, um mehr Chancengleichheit sowie soziale Teilhabe für alle Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen. Zur Realisierung dieses Zieles sind jedoch unseres Erachtens ein kontinuierlicher Austausch über Ressortgrenzen hinweg – verbunden mit einer bundesweiten Vernetzung aller relevanten Akteure zum Umsetzungsfortschritt – einschließlich der Erstellung zweijährlicher Fortschrittsberichte nicht ausreichend.

Vielmehr ist hinlänglich bekannt, dass es für die Verwirklichung dieses Zieles in Deutschland und damit für eine derartige Veränderung in der Gesellschaft auch entsprechender gesetzlicher Grundlagen, einer finanziellen Förderung gezielter politischer Maßnahmen und umfassender Aktivitäten zur Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung sowie in der Verwaltung bedarf. Der Nationale Aktionsplan “Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ hat somit nicht nur die Aufgabe, klare Ziele sowie Maßnahmen zur Zielerreichung zu definieren und eine Evaluation zu beschließen, sondern diese definierten Zielsetzungen müssen in einem weiteren Schritt auch an konkrete Rechtsverbesserungen geknüpft werden.

Dem Nationalen Aktionsplan „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ als ein Kommunikations- und Kooperationsinstrument (dynamisches Instrument) kommt daher im Weiteren die Aufgabe zu, die für die Gruppe der bedürftigen Kinder und Jugendlichen erarbeiteten Lösungsstrategien nicht nur darzustellen, sondern vielmehr in entsprechende einklagbare Rechte zu überführen.

Vor diesem Hintergrund muss es unseres Erachtens auch Ziel sein, dass mit der Umsetzung der EU-Kindergarantie durch diesen Nationalen Aktionsplan zeitnah die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden, um kindgerechtere Lebensbedingungen und bessere Entwicklungschancen für alle Kinder zu schaffen, ihre Rechtsposition deutlich zu stärken, und Kinder an den sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen. Mit der Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) besteht mithin die große Chance, langfristig eine tragfähige Basis für ein kinder- und familienfreundlicheres Land zu schaffen.

Es muss rechtlich normiert werden, dass das Kindeswohl vorrangig zu beachten ist, dass Kinder das Recht auf Entwicklung, auf Schutz, auf Förderung und das Recht auf Beteiligung haben und dazu braucht es im Grundgesetz einen eigenen Artikel für die Kinderrechte, welche unabhängig von Elternrechten und ohne mit ihnen in Konflikt zu geraten gegenüber dem Staat gelten.

Durch die Aufnahme von Kinderrechten im Grundgesetz würde somit der Staat  stärker in die Pflicht genommen werden, z.B. wenn es um die Wahrnehmung seiner Verantwortung für kindgerechte Lebensverhältnisse sowie um gleiche Entwicklungschancen für alle Kinder und Jugendlichen geht. Auch angesichts der aktuellen Debatte über eine viel zu hohe Kinderarmutsquote, unterschiedliche Bildungschancen, ein Auseinanderdriften der Gesellschaft in Arm und Reich sowie häufige Fälle von Vernachlässigung wäre dies ein wichtiges Signal.

3.     Unsere Beiträge/Forderungen für den NAP „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“:

Abschließend möchten wir auch auf unseren – nunmehr aktualisierten - Beitrag Bezug nehmen, welcher bereits mit E-Mail vom 15.11.2022 an die Service- und Monitoringstelle zur Umsetzung des NAP im Deutschen Jugendinstitut geschickt wurde:

Beiträge/Empfehlungen/Forderungen für den Nationalen Aktionsplan:

„Neue Chancen für Kinder in Deutschland“

Empfehlungen, Beiträge und Forderungen der BAG SELBSTHILFE, ihrer Mitgliedsverbände sowie weiterer Akteure im Gesundheitswesen zur Umsetzung des Nationalen Aktionsplans „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ mit der bis 2030 gesetzten Zielvorgabe, Kindern und Jugendlichen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind, Zugang zu

  • hochwertiger frühkindlicher Betreuung,
  • Bildung und Erziehung,
  • Bildungsangeboten und schulbezogenen Aktivitäten,
  • hochwertiger Gesundheitsversorgung,
  • ausreichender und gesunder Ernährung,
  • angemessenem Wohnraum zu garantieren.

Für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen bzw. chronischen Erkrankungen und ihre Familien gibt es in Deutschland erhebliche Probleme. Durch die Aufteilung der Unterstützung auf eine Vielzahl von Leistungsträgern erhalten Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen und chronischen Erkrankungen oft nicht die fachlich gebotene Unterstützung. Auf diese Weise werden sowohl ihre gesundheitlichen als auch ihre beruflichen und persönlichen Entwicklungschancen in einem erheblichen Maße in Mitleidenschaft gezogen.

Dies betrifft insbesondere folgende Bereiche:

1.     KJSG weiterentwickeln/Kinder- und Jugendhilfe inklusiv ausrichten:

Mit dem Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG), welches seit dem 10.06.2021 in Kraft ist, wurde eine wichtige Weichenstellung zur Schaffung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe vorgenommen. Der mit dem KJSG verabschiedete Reformfahrplan muss nun konsequent umgesetzt werden.

Ein Leistungsangebot für behinderte Kinder und Jugendliche, das sich primär an der Lebenslage „Kindheit und Jugend“ orientiert, entspricht dem Inklusionsgedanken der UN-BRK und ist lange überfällig. Bislang gewährt das SGB VIII jedoch nur Kindern mit seelischen Behinderungen Leistungen der Eingliederungshilfe, während Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen Eingliederungshilfe nach dem SGB IX erhalten. Die 2021 begonnene Reform der Kinder- und Jugendhilfe muss in der kommenden Legislaturperiode zwingend fortgesetzt werden.

Die BAG SELBSTHILFE fordert daher:

  • Die inklusive Lösung, nach der alle Leistungen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderung von der Kinder- und Jugendhilfe erbracht werden, ist bis 2028 umzusetzen. Hierbei darf es nicht zu Leistungsverschlechterungen kommen. Vielmehr müssen die Eingliederungs-hilfeleistungen mindestens im bisher gewährten Umfang und mit der bisherigen Qualität erhalten bleiben. Hierfür ist es erforderlich, die für die Leistungsgewährung nach dem SGB VIII zuständige Ebene finanziell entsprechend auszustatten.
  • Bei einer Verlagerung in die Kinder- und Jugendhilfe müssen alle Leistungen der Eingliederungshilfe im SGB VIII übernommen werden. Es darf in keinem Fall zu einer Leistungsverschlechterung für Kinder und Jugendliche mit körperlicher oder geistiger Behinderung kommen. Dies gilt auch für die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen mit drohender Behinderung.
  • Es darf keine Ausweitung der Kosten- und Unterhaltsheranziehung der Eltern behinderter Kinder insgesamt erfolgen. Die besondere Situation einer oftmals lebenslangen Verantwortung von Eltern mit behinderten Kindern gebietet es, finanzielle Mehrbelastungen unbedingt zu verhindern. Bei der notwendigen Neuregelung der Kostenheranziehungsvorschriften ist ferner auf eine bundeseinheitliche und transparente Regelung zu achten.
  • Die Bedarfsermittlung, Leistungs- bzw. Hilfeplanung müssen inklusiv ausgestaltet sein, also regelhaft unter Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Eltern in einer, auch für Kinder und Eltern mit Beeinträchtigung geeigneten Art und Weise.
  • Für den Übergang zum Erwachsenenleben und damit zu den Leistungen der Eingliederungshilfe sind Übergangsregelungen zu schaffen, die einen an den Erfordernissen des Einzelfalls orientierten Übergang vom System der Kinder- und Jugendhilfe in das System der Sozialhilfe erlauben.
  • Auf der kommunalen Ebene ist ein Beteiligungsmanagement einzuführen, in welches die Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände eingebunden werden, um die Entwicklung der Strukturen und der Leistungserbringung mit zu gestalten.

2.     Inklusive Bildung weiter umsetzen:

Seit 2009 haben behinderte Kinder und Jugendliche in Deutschland ein „Recht auf Regelschule“, theoretisch ist mittlerweile die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen möglich. Doch in den meisten Ländern gibt es weit-reichende Einschränkungen, d.h. konkret, dass in vielen Bundesländern die Schulen die Aufnahme behinderter Kinder und Jugendlicher verweigern können, obwohl der Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung an einer allgemeinen Schule nach der UN-Behindertenrechtskonvention zwingend zu gewährleisten ist. Zwar steigt die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen, aber die Zahl der Kinder, die in Sonderschulen separiert werden, bleibt konstant. Am Förderschulsystem wird mit Verweis auf das Elternwahlrecht festgehalten ohne jedoch zu berücksichtigen, dass die unterschiedliche Ausstattung dazu führt, dass Eltern zum Teil immer noch die Förderschulen bevorzugen. Wenn die Bedingungen an der Regelschule für ein behindertes Kind kaum akzeptabel sind, dann haben die Eltern faktisch kein Wahlrecht.

Die BAG SELBSTHILFE fordert daher:

  • Eine verbindliche Gesamtstrategie zur inklusiven Bildung ist zu beschließen. Diese muss Zeitpläne, Umsetzungskonzepte, finanziell unterstützende Ressourcen, überprüfbare Ziele und Qualitätskriterien enthalten. Hier stehen Bund, Länder und Kommunen gemeinsam in der Pflicht.
  • Das strikte Kooperationsverbot im Bildungsbereich muss zugunsten der Inklusion aufgehoben werden, damit der Bund seiner Pflicht zur Unterstützung inklusiver Bildungsangebote, gerade auch im Schulbereich, endlich nachkommen kann.
  • Es muss eine gesetzlich verankerte Pflicht des Staates geben, im Einzelfall die personellen, räumlichen oder sächlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit behinderte Schülerinnen und Schüler eine Regelschule besuchen können. Eine entsprechende Vorschrift gibt es bislang in keinem Bundesland.
  • Die Digitalisierung der Schulen muss von Anfang an barrierefrei erfolgen. Dies muss über eine entsprechende gesetzliche Vorgabe für die Beschaffung von Hard- und Software bei Ausschreibungen sichergestellt werden.
  • Das Thema „Behinderung“ sollte im Bildungsalltag selbstverständlich werden. Hierzu gehören u. a. die Berücksichtigung in Schulbüchern, Angebote zum Erlernen der Gebärdensprache und die Einbeziehung von Behindertenverbänden in Bildungsangebote vor Ort.
  • Die deutsche Gebärdensprache sollte als Unterrichtsfach an den Schulen für Gehörlose und Schwerhörige und als gleichwertiges Wahlpflichtfach im Bereich der Fremdsprachen an den allgemeinbildenden Schulen bundesweit anerkannt und verankert werden.

3.     Frühförderung:

Chronisch kranke und behinderte Kinder und Jugendliche benötigen dringend flächendeckend eine Frühförderung, welche bisher nicht gewährleistet ist. Die regional extrem unterschiedliche Ausgestaltung der Frühförderung sollte daher dringend vereinheitlicht werden; dies gilt insbesondere hinsichtlich des Leistungsinhalts, -umfangs und Qualität der Komplexleistung.

Nachdem die Umsetzung der Frühförderung in vielen Fällen an einer eindeutigen Kostentragung-Verteilung zwischen den Trägern scheitert, wäre auch dies hinreichend klar zu regeln. Um Blockaden beim Abschluss von Leistungsvereinbarungen zu verhindern, wären entsprechende Konfliktlösungsmechanismen zu verankern.

Ferner müssten Maßnahmen ergriffen werden, um die vielerorts viel zu langen Wartezeiten zu verkürzen. Ein barrierefreies offenes und niedrigschwelliges Beratungsangebot wäre ebenfalls zu regeln.

4.     Rehabilitation für Kinder und Jugendliche:

Auch die Sicherstellung des Zugangs zur Rehabilitation für alle Kinder und Jugendlichen wird als dringend notwendig erachtet. Im Hinblick darauf wird aus den Verbänden berichtet, dass in vielen Erkrankungs- und Behinderungsbereichen Plätze für Kinder und Jugendliche nicht zur Verfügung stehen. Selbst wenn Angebote vorhanden sind, fehlt es dann oft an der Ausrichtung an den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen, so ist etwa das Angebot einer Rehabilitation in den Sommerferien nur selten vorhanden.

Im Bereich der Kinder und Jugendlichen ist es darüber hinaus wichtig, dass auch die Familien in die Rehabilitation einbezogen werden. Denn nach einer Entlassung aus der Klinik treten häufig die bis dahin aufgrund der Erkrankung des Kindes in den Hintergrund getretene Probleme innerhalb der Familie auf. Nicht selten zeigen sich Belastungssyndrome, die z. B. zu Verhaltensauffälligkeiten bei Geschwisterkindern oder Differenzen und Spannungen bei den Eltern führen.

Hier greift die familienorientierte Rehabilitation stützend und helfend ein. Jedes Familienmitglied wird sowohl als Einzelperson als auch in seinem Familienumfeld in den Therapieprozess einbezogen, um der Familie wieder zu einer Einheit zu verhelfen. Das Kind lernt, mit seiner Krankheit umzugehen und sie zu akzeptieren.

Die Geschwisterkinder erfahren, dass auch ihre Sorgen und Ängste um den kranken Patienten wichtig und berechtigt sind. Gemeinsam mit anderen Geschwisterkindern lernen sie, die Situation zu akzeptieren und zu verarbeiten. Das Verhalten der Geschwisterkinder untereinander und gegenüber der erkrankten Schwester/dem erkrankten Bruder muss in vielen Fällen neu erlernt werden. Der Umgang mit den Eltern bedarf oft der Korrektur. Die familienorientierte Rehabilitation ist dabei eine entscheidende Hilfe.

Anträge auf Kostenübernahme bei den Krankenkassen werden jedoch in vielen Fällen zunächst abgelehnt. Hier wäre eine entsprechende gesetzliche Regelung hilfreich.

5.     Transition/Schnittstellenprobleme bei der gesundheitlichen Versorgung von chronisch kranken und behinderten Kindern und Jugendlichen:

International besteht Konsens, dass die Transition von Jugendlichen in die Erwachsenenmedizin von grundlegender Bedeutung für die gesamte Lebensperspektive des Betroffenen ist. Unstreitig ist jedoch auch, dass es in Deutschland in einer Vielzahl der Fälle erhebliche Schwierigkeiten beim Übergang von der pädiatrischen in die Erwachsenenversorgung gibt. So wurde etwa in einer Studie festgestellt, dass nach Verlassen der Kinder-Rheumatologie lediglich zwei Drittel der Befragten die Erwachsenenmedizin erreichten. Insgesamt beurteilte nur die Hälfte der Befragten den Übergangsprozess als befriedigend. Dabei trägt eine fachkompetente Versorgung wesentlich dazu bei, die Krankheitslast zu verringern und chronisch kranken und behinderten Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein möglichst normales Leben und Arbeiten zu ermöglichen. Insofern ist es eminent wichtig, dass der Übergang erfolgreich ist; dies kann etwa durch die Verankerung von Übergangssprechstunden, interdisziplinären Teams oder Flexibilisierung der Altersgrenzen – orientiert an der individuellen Lebenssituation – gelingen.

Im Bereich der seltenen Erkrankungen gibt es teilweise aber auch das umgekehrte Problem, dass Kinder von Anfang an von spezialisierten Erwachsenen-Medizinerinnen und -medizinern behandelt werden und dass nach einer gewissen Zeit der Übergang in die pädiatrische Versorgung gemeistert werden muss.

Insgesamt sind dringend gesetzliche Maßnahmen zur Verbesserung dieser Situation der Transition angezeigt: Dies könnte etwa die Verpflichtung zu Übergangssprechstunden oder gemeinsamen Sprechstunden von Kinder- und Erwachsenen-Medizinern sein.

6.     Verbesserung spezialisierter Versorgung von Kindern und Jugendlichen:

In vielen Fällen mangelt es bereits an einer guten Versorgung der Kinder und Jugendlichen, da die Fachkenntnisse der Ärzte bzgl. der Erkrankung fehlen. Dabei sind insbesondere die Kenntnisse der Haus- und Kinderärzte unzureichend. Hier wäre einerseits eine verstärkte Aus- und Fortbildung bzw. Spezialisierung in den verschiedenen Krankheitsbereichen dringend notwendig. Andererseits sollte die Vernetzung mit stationären Einrichtungen – auch jenseits der ambulanten spezialisierten Versorgung - vorangetrieben werden, da hier oft bessere Fachkenntnisse vorhanden sind. Dies gilt insbesondere auch für den Bereich der seltenen Erkrankungen, da hier Diagnoseodysseen von zehn Jahren keine Seltenheit sind. Es muss eine flächendeckende Versorgung mit qualifizierten Spezialisten für die verschiedenen Erkrankungen sichergestellt werden.

7.     Versorgung mit kindgerechten Medizinprodukten:

Patientenorganisationen sind nach wie vor in Sorge um die künftige Behandlung herzkranker Kinder mit kindgerechten Medizinprodukten, wie etwa kleinen Ballonkathetern, größenmäßig geeigneten Herzschrittmachern usw. Vielen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern konnte bislang mit Herzkatheter-Interventionen und Operationen am offenen Herzen erfolgreich geholfen werden. So konnte beispielsweise bei einem Katheter-Eingriff mit hauchdünnen Schläuchen den herzkranken Kindern oft eine Operation am offenen Herzen erspart und so die Risiken von Narkose und anschließender Intensivbehandlung drastisch reduziert werden. Viele teilweise lebensnotwendige kindgerechte Medizinprodukte für angeborene Herzfehler verschwinden jedoch derzeit oder in naher Zukunft vom Markt. Deren aufwändige Produktion bei einer zahlenmäßig eher kleinen Patientengruppe ist aufgrund der geringen Stückzahlen wirtschaftlich nicht attraktiv – vor allem, seit die neue EU-Medizinprodukteverordnung mit der Notwendigkeit teurer Re-Zertifizierungen greift.

Auch wenn die BAG SELBSTHILFE natürlich das Anliegen der europäischen MDR-Richtlinie unterstützt, durch höhere Studienanforderungen die Patientensicherheit zu verbessern, kann die vorgesehene Einführung erhebliche negative Konsequenzen für Kinder und Jugendliche haben.

Zwar wurde nun die Umsetzungsfrist für die Re-Zertifizierung bis 2027 verlängert und das aktuelle Problem damit zeitweise entschärft. Gleichwohl dürften die Patientinnen und Patienten 2027 wieder vor dem gleichen Problem stehen; die BAG SELBSTHILFE fordert daher, dass schon jetzt an Lösungen sowohl für versorgungsrelevante Produkte als auch für Bestandsprodukte gearbeitet wird, bei denen die Zertifizierungskosten nicht wirtschaftlich sind und die sich gleichzeitig über Jahre hinweg auf dem Markt bewährt haben. Ferner müssen die Kapazitätsprobleme bei den sog. Benannten Stellen zeitnah beseitigt werden.

8.     Verfahren beim Off Label Use von Kinderarzneimitteln:

Viele Arzneimittel, die standardmäßig auch Kindern verschrieben werden, sind für diesen Gebrauch überhaupt nicht zugelassen (sog. Off Label Use). Während die pharmazeutischen Hersteller seit 2008 bei einer Neuzulassung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen mit dem Zulassungsantrag ein pädiatrisches Prüfkonzept (Paediatric Investigation Plan, PIP) vorgelegen müssen, in dem das geplante Entwicklungsprogramm für eine Anwendung an Kindern bzw. Jugendlichen beschrieben wird, gilt diese Regelung für „alte“ Arzneimittel nur, wenn eine Zulassungsänderung beantragt wird und noch Patentschutz besteht. Komplizierter ist es bei nicht mehr patentgeschützten, „alten“ Arzneistoffen. Entwickelt ein pharmazeutischer Unternehmer hier ein spezielles Kinderarzneimittel und beantragt eine Genehmigung für die pädiatrische Verwendung (Paediatric use marketing authorisation (PUMA)), gewährt die Zulassungsbehörde einen zehnjährigen Unterlagenschutz (achtjähriger Unterlagenschutz für die an Kindern erhobenen Daten plus zweijährige Marktexklusivität), der die Marktexklusivität des kindgerechten Präparats sichern soll. Diese Genehmigung kann für alle pädiatrischen Indikationen in allen oder bestimmten Altersgruppen und für die Entwicklung kindgerechter Darreichungsformen erteilt werden. Die Entwicklung für die Anwendung bei Kindern muss dem durch den PDCO gebilligten PIP folgen. Die Entscheidungen der EMA bezüglich des PIP werden transparent auf der EMA-Homepage dargestellt; leider wurden jedoch nur bisher nur 6 PUMA Genehmigungen erteilt.1

Dies bedeutet für Kinder und Jugendliche, dass sie beim Off Label Use sehr häufig mit der Unsicherheit zurechtkommen müssen, nicht zugelassene Medikamente zu erhalten; zudem kann es zu sozialrechtlichen Streitigkeiten mit der Krankenkasse kommen, da diese die Finanzierung genehmigen muss.

Vor diesem Hintergrund gibt es die Möglichkeit, über die Off-Label Kommission einen Antrag zu stellen, um die vorliegende Evidenz zu klären und so mehr Sicherheit in sozialrechtlicher wie auch in arzneimittelrechtlicher Hinsicht zu bekommen. Es muss leider nach wie vor festgestellt werden, dass die Bewertungen durch die eingesetzten Expertengruppen nach wie vor nur schleppend vorangehen. Da die Bewertung einzelner Medikamente und Indikationen sehr zeit- und arbeitsaufwändig ist, wurden bisher nur wenige Medikamente überprüft und eine entsprechende Empfehlung auf Aufnahme in die Positivliste gegenüber dem Gemeinsamen Bundesausschuss ausgesprochen. Hier muss nunmehr dringend im Interesse der betroffenen Patienten die Arbeit der Off-Label Kommission durch strukturelle Maßnahmen beschleunigt werden.

Ferner wird auf das Problem hingewiesen, dass die Datenlage im Off-Label-Bereich oft so schlecht ist, dass ein Antrag auf Aufnahme sogar kontraproduktiv sein kann, da bei einem Scheitern das Risiko besteht, dass das entsprechende Medikament auf die Negativliste (Anlage B) kommt.

Dies ist gerade in Bereichen problematisch, in denen ein Großteil der Medikamente off label verordnet wird, wie etwa in der Kinderonkologie. Aus diesem Grunde sollte auch geklärt werden, wie sich die Evidenz im Bereich des Off Label Uses verbessern lässt, etwa durch Förderung unabhängiger Forschung.

9.     Lieferengpässe für Kinderarzneimittel:

Bereits seit längerem gibt es das Problem der Lieferengpässe bei Arzneimitteln, insbesondere auch bei Kinderarzneimitteln. Für Eltern und betroffene Kinder bedeutet dies eine erhebliche Belastung.

Vor diesem Hintergrund werden im ALBVVG (Kabinettsentwurf) vorgesehenen Maßnahmen zur Abhilfe nachdrücklich begrüßt und für zielführend gehalten. Es sollte jedoch nach deren – hoffentlich zeitnahen – Verabschiedung engmaschig beobachtet werden, ob sie hinreichend geeignet sind, die Engpässe zu beseitigen. Insgesamt erscheint es dabei aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE wichtig und notwendig, die Produktion von Medikamenten wieder stärker nach Europa zu holen.

10. Empfehlung der Deutschen Interessengemeinschaft Phenylketonurie und verwandte angeborene Stoffwechselstörungen e.V.:

Die DIG PKU e.V. als Mitgliedsverband der BAG SELBSTHILFE hat für den NAP eine eigene Empfehlung erarbeitet, welche zusammengefasst Folgendes beinhaltet:

Der krankheitsbedingte Ernährungsmehrbedarf für Kinder und Jugendliche mit Phenylketonurie (PKU) und verwandten angeborenen Stoffwechselstörungen stellt insbesondere für Familien mit geringem Einkommen eine Hürde beim Zugang zu gesunder Ernährung und hochwertiger Gesundheitsversorgung dar. Daher sollte mit dem Nationalen Aktionsplan „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ die finanzielle Entlastung der betroffenen Familien von diesen Mehrkosten in Angriff genommen werden. 

11.  Forderungen der DMSG Bundesverband e.V.: 

Kinder und Jugendliche mit Multiple Sklerose Erkrankung (MS-Erkrankung) können aufgrund der Klinikaufenthalte, dem individuellen Krankheitsverlauf oder anderen Beeinträchtigungen nicht immer einem geregelten Schulbesuch nachgehen. Auch besteht die Gefahr, dass sie bei einem schlechten Krankheitsverlauf oder /und neurologischen Einschränkungen nicht nur in der Schulbildung, sondern auch in der Berufsausbildung/Studium und im Berufsleben zahlreichen Schwierigkeiten und Beeinträchtigungen gegenüberstehen, die die Gefahr eines Armutsrisikos erhöhen. Dabei ist natürlich auch zu berücksichtigen, dass die Situation für Kinder und Jugendliche noch verstärkt wird, wenn weitere belastende Faktoren hinzutreten, z.B. Komorbiditäten, belastende soziale Verhältnisse. Hier ist auch auf die besondere Situation von Kindern hinzuweisen, bei denen ein oder beide Elternteile an MS erkrankt sind. Die Kinder werden dann oftmals als Helfer/Carer in (die) besondere Verantwortung genommen.

Das Positionspapier der DMSG „Genderspezifische Aspekte der Multiplen Sklerose“, weist ebenfalls auf das hohe Risiko des Verlusts von Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten und Altersarmut hin.

Die DMSG Landesverbände bieten unterschiedliche Unterstützungen wie Beratungsangebote und entlastende Maßnahmen für Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern an. Auch gibt es u.a. ein Schulungsprogramm für Jugendliche mit MS und deren Eltern, dessen Ziel es ist, Jugendlichen mit MS und deren Eltern nicht nur medizinisches Wissen, sondern auch wesentliche Kompetenzen zu vermitteln, wie Fertigkeiten, die eine Handhabung der allgemeinen Strategien im Umgang mit der Krankheit ermöglichen.

Der DMSG Bundesverband als Mitgliedsverband der BAG SELBSTHILFE plädiert dafür, dieses bereits evaluierte Programm zu einem regelhaften Bestandteil der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit MS zu machen. Ebenfalls plädiert der Verband dafür, die Forschung über die Belastungen inklusive potentiell erhöhtem Armutsrisiko für Kinder und Jugendliche mit MS sowie in Familien mit MS durch ein neu aufzulegendes Forschungsprogramm zu vertiefen und die DMSG im Sinne der partizipativen Forschung daran frühestmöglich zu beteiligen.

12Forderungen des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V. (bvkm), des INTENSIVkinder zuhause e.V. sowie der maßgeblichen Patientenorganisationen:

Diese Mitgliedsverbände einschließlich der in § 2 PatBeteiligungsV aufgeführten Organisationen setzen sich insbesondere auch dafür ein, dass Kinder mit Außerklinischem Intensivpflegebedarf (AKI-Bedarf) zuallererst als Kinder gesehen werden, mit den Bedürfnissen, die alle Kinder haben. Dazu gehören das Bedürfnis nach Schutz und Fürsorge, die Möglichkeit, eine Schule oder einen Kindergarten besuchen zu können und sich altersentsprechend zu entwickeln sowie das Bedürfnis im Kontakt und Austausch mit Eltern, Geschwistern und anderen Gleichaltrigen zu sein. Leben Kinder mit AKI-Bedarf in ihrer Familie, ist es ihnen weitestgehend möglich, ein solches „normales“ Leben zu führen. Die Kinder gehen z. B. in die Schule und werden dort von einer Pflegekraft intensivpflegerisch betreut. Sie spielen am Nachmittag mit ihren Geschwistern und nehmen am Wochenende an Familienausflügen teil. Anders sieht es jedoch für Kinder mit Intensivpflegebedarf aus, die in den sog. Kinderintensivpflege-Wohngemeinschaften leben. Viele der dort lebenden Kinder können vor allem aufgrund des Fachkräftemangels nicht bei ihren Familien aufwachsen. Solche Kinderintensivpflege-Wohngemeinschaften werden in der Regel von Pflegediensten initiiert und betrieben. Bei der Betreuung und Versorgung der Kinder kommen nur Pflegekräfte zum Einsatz. Dementsprechend steht in diesen Wohnformen ausschließlich die Pflege der Kinder im Vordergrund. Eine pädagogische Förderung der Kinder findet häufig nicht statt. Auch können die Kinder in der Regel nicht die Schule oder den Kindergarten besuchen. Inwieweit die Jugendämter für die Aufsicht über diese Wohnformen zuständig sind und inwieweit hier also die Kontroll- und Schutzmechanismen des SGB VIII greifen, ist nicht klar. Dies stellt einen unhaltbaren Zustand dar und Abhilfe wird daher für dringend notwendig erachtet.

Es wird daher gefordert:

  • sicherzustellen, dass Kinderintensivpflege-Wohngemeinschaften der Kontrolle der Jugendämter unterliegen und
  • durch entsprechende Vorgaben sicherzustellen, dass die Teilhabe und Förderung von Kindern und Jugendlichen in allen außerfamiliären Wohnformen, in denen AKI erbracht wird, gewährleistet ist. Insbesondere ist sicherzustellen, dass die dort lebenden Kinder und Jugendlichen den Kindergarten bzw. die Schule besuchen können. Auch muss ihnen eine individuelle pädagogische Förderung und Freizeitgestaltung ermöglicht werden. Ferner ist einer partizipativen Elternarbeit und der Einbindung des familiären Systems Sorge zu tragen.

13.   Positionspapier des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen (bvkm) zur Kindergrundsicherung:

Mit seinem Positionspapier vom 10.11.2022 zur Kindergrundsicherung fordert der Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V. (bvkm), die Belange von Eltern behinderter Kinder bei der Neuausrichtung der Familienförderung zu berücksichtigen.

„Die finanzielle Entlastung von Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung darf durch die Kindergrundsicherung nicht entfallen“, stellt Beate Bettenhausen, Vorsitzende des bvkm, klar. „Wir werden deshalb wachsam sein und genau beobachten, welche Pläne die Bundesregierung in Bezug auf den Kindergeldanspruch von Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung entwickelt.“ Es sei auch künftig sicherzustellen, dass Eltern, die durch die Versorgung, Betreuung und Unterstützung ihrer erwachsenen Kinder finanziell belastet sind, entsprechende Entlastung erfahren. Die Kindergrundsicherung, auf die sich SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt hatten, soll bisherige Unterstützungsleistungen für Familien, wie etwa das Kindergeld und Sozialhilfe, bündeln und durch einen Grundbetrag für alle Kinder ab der Geburt ersetzen. Eine interministerielle Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundesfamilienministeriums will bis Ende 2023 ein Konzept für die Kindergrundsicherung vorlegen.

In seinem Positionspapier fasst der bvkm seine fünf wesentlichen Forderungen zur Kindergrundsicherung zusammen. „Die besonderen Belange von Eltern behinderter Kinder müssen bei der Neuausrichtung der Familienförderung angemessen berücksichtigt werden“, macht Beate Bettenhausen deutlich. „Der bvkm und andere Verbände behinderter Menschen sind deshalb zwingend in die Erarbeitung eines Konzepts zur Kindergrundsicherung einzubeziehen.“

Positionspapier sowie Pressemitteilung vom 29.03.2022 des bvkm sind auf der Internetseite www.bvkm.de veröffentlicht.

14Vorschläge des Dr. von Haunerschen Kinderspitals der LMU München und Care-for-Rare Foundation – Stiftung für Kinder mit seltenen Erkrankungen:

Zudem möchten wir auf die Vorschläge des Dr. von Haunerschen Kinderspitals und der Care-for-Rare Foundation zum Nationalen Aktionsplan „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ hinweisen und fügen diese ebenfalls als Anlage bei.

Düsseldorf/Berlin, den 30.05.2023 


1 Rascher, AKdÄ, Die Problematik der Off-Label-Anwendung bei Kindern am Beispiel von Fentanyl, zit. nach https://www.akdae.de/arzneimitteltherapie/arzneiverordnung-in-der-praxis/ausgaben-archiv/ausgaben-ab-2015/ausgabe/artikel/2023/2023-1/die-problematik-der-off-label-anwendung-bei-kindern-am-beispiel-von-fentanyl 

 

Stellungnahme

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