Stellungnahme zur Reform der Notfallversorgung

Als Dachverband von 127 Bundesverbänden der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen und deren Angehörigen sowie von 13 Landesarbeitsgemein-schaften begrüßt es die BAG SELBSTHILFE, dass die drei Versorgungsbereiche – vertragsärztlicher Notdienst, Notaufnahme der Krankenhäuser, Rettungsdienste - besser miteinander vernetzt und aufeinander abgestimmt werden sollen. Allerdings bestehen Zweifel, ob die neu geschaffenen Strukturen und Aufgabenzuweisungen für die Bürgerinnen und Bürger hinreichend transparent sein werden.

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist es zwar zutreffend, dass der Steuerung der Hilfesuchenden durch die komplexen Strukturen eine große Bedeutung zukommt.

Damit die Autonomie der Patientinnen und Patienten auch in Notfallsituationen gewahrt bleiben kann, muss der Akzent der geplanten Maßnahmen jedoch deutlich stärker auf eine Verbesserung der navigationalen Gesundheitskompetenz gelegt werden.

Die Zusammensetzung unserer Gesellschaft verändert sich und viele Menschen kommen aus Versorgungssystemen zu uns, die keine ausgeprägte ambulante Notfallversorgung kennen.

Der vorliegende Gesetzentwurf verkennt insoweit die große Bedeutung von Maßnahmen der Aufklärung und der Schaffung von Transparenz hinsichtlich der Zuständigkeitsbereiche.

Eher zweifelhaft ist daher auch, ob die Übernahme der bisherigen Aufgaben der Terminservicestellen im Bereich der Akutvermittlung durch eine neue Akutleitstelle der Kassenärztlichen Vereinigungen einen Fortschritt bringen wird.

Auch die Funktion und Aufgabenstellung der neuen Integrierten Notfallzentralen müssen der Bevölkerung durch anschauliche und laienverständliche Informationen nähergebracht werden. Hier fehlt es an einem Aufklärungskonzept, das flankierend zu Strukturveränderungen aufgelegt werden muss.

Dagegen ausführlich zu begrüßen ist aus Sicht der BAG SELBSTHILFE, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen nun auch ausdrücklich verpflichtet werden, die Versicherten im Internet bundesweit einheitlich über die Zugangsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung zur Versorgung (Barrierefreiheit) zu informieren haben.

Im Einzelnen ist zum vorliegendem Gesetzentwurf folgendes auszuführen:

1.)  § 75 Absatz 1a SGB V, Informationen zu Barrieren in der Versorgung

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist es sehr zu begrüßen, dass die Richtlinie über die Barrieren in Arztpraxen nun dadurch mit Leben gefüllt werden soll, dass die Kassenärztlichen Vereinigung verpflichtet werden, diese Auskünfte bundeseinheitlich den Versicherten im Internet zur Verfügung zu stellen.

Es wäre wünschenswert, wenn auch die Kassenärztlichen Vereinigungen entsprechend verpflichtet würden.

 

2.) § 75 Abs. 1a, SGB V, Vernetzung der Rufnummern 116, 117 und 112

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist es zwar nachvollziehbar, dass die allgemeinen Aufgaben der Terminservicestellen und die Notfallsteuerung unterschiedliche Anforderungen mit sich bringen.

Sollen nun aber die entsprechenden Rufnummern voneinander entkoppelt werden, dann ruft dies einen intensiven Aufklärungsbedarf der Bevölkerung hervor.

Der vorliegende Gesetzentwurf lässt Maßnahmen vermissen, die diesen Bedarf abdecken sollen.

Ferner räumt der Gesetzentwurf selbst in seiner Begründung ein, dass es zu Überlastungen der telefonischen Akutleitstelle kommen kann. Dies ist höchst bedenklich und im Hinblick auf die Patientensicherheit inakzeptabel.

3.)  § 75 Absatz 1b SGB V, Konkretisierung des Sicherstellungsauftrages der Kassenärztlichen Vereinigungen

Der vorliegende Gesetzentwurf sieht folgende Veränderungen vor:

Der neue Begriff der notdienstlichen Akutversorgung umfasst die vertragsärztliche Versorgung in Fällen, in denen eine sofortige Behandlung aus medizinischen Gründen erforderlich ist.

Die notdienstliche Versorgung soll durchgängig, das bedeutet 24 Stunden täglich, sichergestellt werden. Sie ist jedoch ausdrücklich auf eine Erstversorgung der Versicherten begrenzt. Zur Sicherstellung einer medizinisch notwendigen Erstversorgung von Patientinnen und Patienten mit akutem ambulanten Behandlungsbedarf werden die Kassenärztlichen Vereinigungen verpflichtet, 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche sowohl eine telemedizinische als auch eine aufsuchende notdienstliche Versorgung bereitzustellen. Insbesondere das Angebot einer durchgehend verfügbaren – auch kinder- und jugendmedizinischen –Telemedizin kann andere Notfallstrukturen entlasten und Versorgungslücken schließen. Ergänzend werden die Kassenärztlichen Vereinigungen verpflichtet, sich nunmehr an flächendeckend einzurichtenden Integrierten Notfallzentren zu beteiligen.

Die geschilderte Neuregelung wird grundsätzlich begrüßt. Allerdings fehlen im Gesetzentwurf Maßgaben, die sicherstellen, dass Qualität der telemedizinischen notdienstlichen Versorgung nicht hinter der notdienstlichen Präsenzversorgung zurückbleibt.

Entsprechendes gilt für die geplante Neuregelung, dass den Kassenärztlichen Vereinigungen ermöglicht werden soll den aufsuchenden Dienst durch die Einbindung von qualifiziertem nichtärztlichem Personal oder durch Kooperationen mit dem Rettungsdienst zu entlasten und für das telemedizinische Angebot Kooperationen untereinander und mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung einzugehen.

Auch bleibt abzuwarten, wie der neu formulierte Sicherstellungsauftrag tatsächlich nachhaltig flächendeckend umgesetzt wird.

 

4.) § 75 Absatz 1 a Satz 20 SGB V, Integrierte Notfallzentren und digitales Ersteinschätzungsinstrument

Der vorliegende Gesetzentwurf sieht die flächendeckende Schaffung von Integrierten Notfallzentren vor. Sie sollen aus der Notaufnahme eines zugelassenen Krankenhauses, einer Notdienstpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung und einer zentralen Ersteinschätzungsstelle bestehen und stehen rund um die Uhr eine bedarfsgerechte medizinische Erstversorgung zur Verfügung.

Zugelassene Krankenhäuser und die zuständigen Kassenärztlichen Vereinigungen sollen als Kooperationspartner des Integrierten Notfallzentrums Vereinbarungen mit gesetzlich vorgegebenen Inhalten schließen. Die Notaufnahme, die Notdienstpraxis und die Ersteinschätzungsstelle sollen digital vernetzen sein, um eine medienbruchfreie Weitergabe von personenbezogenen Daten der Patientinnen und Patienten zu ermöglichen.

Wesentliches Element des Integrierten Notfallzentrums soll die zentrale Ersteinschätzungsstelle sein, die Hilfesuchende der richtigen Struktur innerhalb des Integrierten Notfallzentrums zuweist. Perspektivisch soll dies über eine standardisierte, qualifizierte und digitale Ersteinschätzung geschehen, sobald eine solche als validiertes und patientensicheres Instrument zur Verfügung steht. Die Verantwortung für die Einrichtung der zentralen Ersteinschätzungsstelle obliegt grundsätzlich dem Krankenhaus; abweichende Vereinbarungen sind möglich. Für den Betrieb der zentralen Ersteinschätzungsstelle wird eine gesonderte fallbezogene Vergütung vorgesehen.

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist grundsätzlich gegenüber der Schaffung einer sektorübergreifenden neuen Notfallversorgungsstruktur nichts einzuwenden.

Aufgabenstellungen und Versorgungspfade müssen den Bürgerinnen und Bürgern aber transparent gemacht werden. Hierzu fehlen im vorliegenden Gesetzentwurf die notwendigen Maßgaben für die Aufklärung der Bevölkerung.

Risikobehaftet ist allerdings, dass der Gesetzentwurf die Schaffung von zentralen Ersteinschätzungsstellen in den integrierten Notfallzentren ohne eine vorherige Erprobung vorsieht.

Fraglich ist, ob in diesen Einschätzungsstellen tatsächlich vollumfänglich die notwendige interdisziplinäre Expertise zur Ersteinschätzung vorhanden ist.

Insbesondere die besonderen Belange von Menschen mit Behinderungen (§ 2a SGB V) werden schwerlich adäquat berücksichtigt werden können.

Vor diesem Hintergrund hält die BAG SELBSTHILFE es auch für utopisch, digitale Ersteinschätzungsinstrumente als künftiges Kernelement der Versorgungssteuerung in den Ersteinschätzungsstellen anzusehen.

Ohnehin muss der Aspekt der Pateientenautonomie auch und gerade in Notfallsituationen gewahrt bleiben.

5.) § 123 Absatz 3 SGB V, Digitales Ersteinschätzungsprogramm

Da es an einem evaluierten digitalen Ersteinschätzungsinstrument fehlt, ist es verfehlt, den Gemeinsamen Bundesausschuss sogleich mit der Definition von Vorgaben und Anwendungsmaßgaben und nicht der Festlegung des Einsatzbeginns zu beauftragen. Dem Gemeinsamen Bundesausschuss fehlt es insoweit auch an der notwendigen Fachkompetenz. Zumindest eine Mitwirkung des BfArM müsste vorgesehen werden.

6.) § 123 Absatz 1 Nr. 2 SGB V, Standortdichte der Integrierten Notfallzentren

Der vorliegende Gesetzentwurf sieht vor, dass die neu zu schaffende Integrierten Notfallzentren für mindestens 95 % der Bevölkerung innerhalb von 30 Fahrzeitminuten in einer Planungsregion erreichbar sein sollen. Die BAG SELBSTHILFE ruft in Erinnerung, dass es vorliegend um die Notfallversorgung geht, so dass ein Zeitverzug allein für die Erreichung des Zentrums von 30 Fahrminuten schon inakzeptabel ist.

Zu fragen ist aber auch, was denn mit den 5 % der Bevölkerung geschehen soll, für die ein Notfallzentrum nicht einmal innerhalb von 30 Fahrminuten erreichbar ist.

Eine ambulante organisierte Auffangstruktur ist hier unabdingbar. Fraglich ist, ob die so genannte Akutleitstellen hier für eine zeitnahe Versorgung durch die notdienstliche Akutversorgung sorgen können.

7.) § 90 Abs. 4a SGB V, Erweiterter Landesausschuss

Durch die Aufgabenzuweisungen des § 123 SGB V soll der erweiterter Landesausschuss künftig in seiner Besetzung erweitert werden.

Dies ist nachvollziehbar. Da dort jedoch die Anzahl der Vertreter*innen der Leistungserbringer nicht mehr der Anzahl der Vertreter*innen der Krankenkassen entsprechen soll, tritt die BAG SELBSTHILFE auch für eine Erhöhung der Sitze der Patientenvertretung nach § 140 f SGB V ein.

8.) § 123h Abs. 2 Satz 5 SGB V, Akutleitstelle und Integriertes Notfallzentrum

Der vorliegende Gesetzentwurf sieht vor, dass Hilfesuchende, die das Integrierte Notfallzentrum im Rahmen einer telefonischen Vermittlung durch die Akutleitstelle aufsuchen, dort vorrangig bei gleicher Behandlungsdringlichkeit zu behandeln sind.

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE öffnet diese Vorschrift der Willkür vor Ort Tür und Tor, da sie an nicht klar nachprüfbare Sachverhalte anknüpft. Eine Triage unter Sympathiegesichtspunkten darf es aber nicht geben.

Auch hier ist darauf hinzuweisen, dass es nicht die Schuld der Bürgerinnen und Bürger sein kann, wenn keine Transparenz hinsichtlich der Patient Pathways in der Notfallversorgung besteht.

Intensive Aufklärungsmaßnahmen sind erforderlich, insbesondere für Menschen, in deren Heimat es gar keine ausgeprägte ambulante Versorgung gibt. Die Selbsthilfeorganisationen chronisch kranker und behinderter Menschen könnten hier – bei entsprechender Finanzierung – äußerst hilfreiche Informations- und Beratungsangebote bereitstellen.

Dies wäre im Endeffekt weitaus kostengünstiger.

9.) § 60a SGB V, Krankenhaustransporte und Krankenfahrten

Die BAG SELBSTHILFE möchte das Gesetzgebungsverfahren zum Anlass nehmen, auf ein Problem im Zusammenhang mit der Bewilligung von Krankentransporten hinzuweisen: Die Verlagerung von stationären Leistungen in den ambulanten Bereich sowie die verkürzten Liegezeiten durch die DRGs haben zur Folge, dass nunmehr auch schwere Erkrankungen ambulant behandelt werden. Die BAG SELBSTHILFE hat insoweit Rückmeldungen, dass hier erhebliche Probleme mit Krankentransporten bestehen, da die in der Krankentransportrichtlinie genannten Ausnahmefälle nicht ausreichen, um den tatsächlichen Bedarf von Krankentransport bei schweren Erkrankungen abzudecken.

Die bestehenden Ausnahmeregelungen bieten keine rechtssichere Grundlage für die Klärung des Anspruchs auf Krankentransport.

Die BAG SELBSTHILFE fordert insoweit, hier patientenorientierte Lösungen zu finden. So könnte etwa gesetzlich festgelegt werden, dass Krankenfahrten dann erstattet werden, wenn sie die in § 116b genannten schweren Erkrankungen betreffen. Damit ist einerseits der in der bisherigen Gesetzesfassung vorgegebene Ausnahmecharakter des ambulanten Krankentransportes gewahrt, aber gleichzeitig der zunehmenden Ambulantisierung schwerer Erkrankungen Rechnung getragen.

Eine Alternative könnte aber auch ein Auftrag an den GBA sein, weitere Behandlungen etwa in Anlage 2 der entsprechenden Richtlinie aufzunehmen oder Definitionen für die bislang verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe vorzunehmen.

Darüber hinaus sollte jedoch der zunehmenden Ambulantisierung auch durch Streichung eines Teils der Regelung Rechnung getragen werden. Leider ist nämlich das BSG[1] der Auffassung, dass der „AOP-Katalog“ nicht als taugliches Abgrenzungskriterium für stationsersetzende Maßnahmen taugt, sondern dass vielmehr jeweils eine Prüfung des Einzelfalles durchgeführt werden muss - mit den entsprechenden Prozessrisiken für die Patientinnen und Patienten.

Aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE sollte daher im Zuge dieser Änderung auch eine klarstellende Korrektur der Fahrtkostenregelung des § 60 Abs. 2 SGB V vorgenommen werden:

4.   bei Fahrten von Versicherten zu einer ambulanten Krankenbehandlung sowie zu einer Behandlung nach § 115a,

5.   bei Fahrten zu einem stationsersetzenden Eingriff oder einer stationsersetzenden Behandlung nach § 115b oder bei Fahrten zu einem ambulanten Eingriff bei Vorliegen eines in der Vereinbarung nach § 115b bestimmten allgemeinen Tatbestandes, bei dem an sich die stationäre Durchführung erforderlich sein kann

Düsseldorf, 26. Juni 2024

 


[1] BSG-Urteil vom 18.11.2014 – B 1 KR 8/13 R, BSG-Urteil vom 13.12.2016 – B 1 KR 2/16 R

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