Insgesamt betrifft dies eine sehr große Gruppe der Bevölkerung. Immunsupprimierende Medikamente werden bei Menschen mit Organtransplantationen, aber auch bei vielen anderen chronischen Erkrankungen verabreicht. Zu den bekanntesten gehören rheumatologische Erkrankungen (ca. 1, 5 Mio Betroffene), Multiple Sklerose (ca. 252.000 Betroffene), Schuppenflechte (ca. 1,5 Mio Betroffene) und Morbus Crohn (ca. 400.000 Betroffene). In vielen dieser Fälle kann es sein, dass der Schutz vor einer Covid-19 Erkrankung auch bei drei, vier- oder gar fünfmaliger Impfung wegen der immunsupprimierenden Medikamente nicht oder nur unzureichend eintritt; dies differiert auch nach der Stärke der immunsupprimierenden Therapie. Im Falle von hämatologischen Krebserkrankungen gilt entsprechendes, also dass die Immunantwort auf die Impfung schwach ausfallen und deswegen kein oder nur geringer Impfschutz bestehen kann. Auch bei Hochaltrigen ist anerkannt, dass die Schutzwirkung der Impfung gegen schwere Erkrankung nicht so gegeben ist wie bei Jüngeren.
In vielen Fällen wissen die Betroffenen zudem nicht, ob und wie umfangreich ihr Schutz ist, da die notwendigen Antikörpertests bisher nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden – obwohl die Gesundheitsministerkonferenz hier eine Überprüfung der Erstattungsfähigkeit dieser Tests angeregt hatte.
Dies bedeutet Folgendes: Lässt man die vorhandene Impflücke von ca. 15 Prozent bei den Erwachsenen über 18 und die allgemeine Impflücke von 25 Prozent in der Bevölkerung weiter bestehen, so wird sich die Herstellung einer Grundimmunität im Wege der Durchseuchung in der Bevölkerung über Jahre hinziehen, zumal wegen immer wieder auftretender Varianten mit mehrmaliger Infektion der Ungeimpften gerechnet werden muss, bevor ein solider Immunschutz vorhanden ist. Dies hat für Betroffene, die unter Immunsuppression stehen oder eine Immunschwäche haben, zur Folge, dass sie und ihre Angehörige über Jahre hinweg versuchen müssen, sich zu isolieren, damit sie nicht das für sie leider nach wie vor lebensbedrohliche Virus bekommen. Denn Intensivmediziner verweisen immer wieder darauf, dass derzeit viele der geimpften Personen auf den Intensivstationen Menschen sind, die immunsupprimierende Medikamente erhalten haben. Dies bedeutet aber leider eben auch, dass die Impfung bei diesen Menschen nicht nur nicht vor einer Infektion, sondern auch nicht vor einem schweren Verlauf schützt.
Wenn in der Diskussion immer wieder auf die zu schützenden Grundrechte der Impfverweigerer verwiesen wird, so wird oft vergessen, dass man bei einer Ablehnung der Impfpflicht im gleichen Atemzug auch die Grundrechte der Betroffenen, insbesondere das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und der allgemeinen Handlungsfreiheit, über Jahre hinaus verletzt. Dies gilt auch für ihre gesundheitliche Versorgung: Denn bereits jetzt wählen viele Pflegefachkräfte in den Krankenhäusern den Pflexit, also die Kündigung; noch mehr Ärzte und Pflegefachkräfte denken darüber nach. Auch aus diesem Grund mussten Intensivbetten abgebaut werden. Zudem müssen immer wieder Krebs-Operationen abgesagt werden, weil sich wiederum eine neue Covid-19 Welle aufbaut; ein solcher, sich immer wiederholender Prozess dürfte sich noch lange hinziehen, wenn man nicht zu einer allgemeinen Grundimmunität in der Bevölkerung kommt, die die Krankenhäuser vor Überlastung schützt.
Auch das Gesundheitssystem insgesamt dürfte durch hinzukommende Long-Covid Fälle enorm belastet werden, was die allgemeinen Ressourcen noch weiter belastet.
Menschen mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen, ihren Angehörigen, aber auch den Pflegefachkräften und Ärzten ist ein solcher jahrelanger Wechsel zwischen Pandemiewellen im Winter und entspannteren Zeiten im Sommer nicht mehr zuzumuten und beeinträchtigt deren Grundrechte in hohem Maße; aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE kann deswegen die Güterabwägung der Grundrechte derer, die eine milliardenfach erprobte und sichere Impfung ablehnen, nur zugunsten derjenigen ausgehen, denen es nicht möglich ist, ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit wirksam durch eine Impfung zu schützen. Denn wenn man die Position vertritt, dass nach einem Angebot einer Impfung jeder auf die Eigenverantwortung und sein eigenes allgemeines Lebensrisiko verwiesen sei, wird verkannt, dass es eben Menschen gibt, die keine Möglichkeit haben, einen wirksamen Impfschutz zu erhalten oder die solche Angehörige haben; auch deren Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Bildung und Teilhabe sind schützenswert. Und wer darauf verweist, dass die Impfung nur zum Individualschutz geeignet sei, verkennt eben, dass dies kein dichotomer Zustand ist. Die Impfung setzt in jedem Fall das Risiko erheblich herab, andere anzustecken; gerade aus diesem Grunde wurde ja die einrichtungsbezogene Impfpflicht geschaffen. Zudem entlastet der Individualschutz auch die dringend benötigte stabile Krankenhaus- und ambulante Versorgung.
Aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE verfolgt eine allgemeine Impfpflicht ein Bündel von Zielen, die in den ersten drei Spiegelstrichen dem Gutachten von Oppenländer (1) zur Verfassungsmäßigkeit der Impfpflicht mit zugehöriger Darstellung der Landesregierung (2) entnommen wurden:
- Schutz der Gesundheit und des Lebens der Bürgerinnen und Bürger dahingehend, dass eine hinreichende Grundimmunisierung geschaffen wird, die eine Weiterverbreitung des Virus aufgrund der entsprechenden Wirkung einer Impfung reduzieren kann.
- Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gesundheitsversorgung, beispielsweise sollen Verschiebungen geplanter Operationen vermieden werden.
- Bessere Verwirklichung der Freiheitsgrundrechte, da kontaktbeschränkende Maßnahmen, insbesondere „Lockdowns“ vermieden bzw. aufgehoben werden können, wenn eine ausreichende Grundimmunisierung der Bevölkerung erreicht ist.
- Schutz von vulnerablen Bevölkerungsgruppen, die sich aufgrund ihrer Immunantwort auf die Impfung nicht wirksam selbst schützen können.
- Schutz der körperlichen und psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sowie Gewährleistung des Rechtes auf Schulbildung für alle Kinder/ Jugendlichen einschließlich der Kinder mit chronischen Erkrankungen.
1. Schutzpflicht des Staates gegenüber Menschen mit Behinderungen aus Art. 3 Abs. 3 GG und der UN-BRK, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zur Triage und zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner sog. Triage- Entscheidung festgelegt, dass das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes in Art. 3 Abs. 3 für Menschen mit Behinderungen nicht nur ein Abwehrrecht gegenüber Diskriminierungen des Staates gegenüber Menschen mit Behinderungen ist, sondern in besonders lebens-gefährdenden Situationen auch eine Schutzpflicht des Staates für die Personengruppe darstellt:
„Der Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG kann sich in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten. Dazu gehören die gezielte, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung von Personen wegen einer Behinderung, eine mit der Benachteiligung wegen Behinderung einhergehende Gefahr für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter wie das Leben oder auch Situationen struktureller Ungleichheit.“ (3)
Das Bundesverfassungsgericht hat für den Bereich der Menschen mit Behinderungen daraus – wohl auch wegen der spezifischen Fragestellung – nur einen Anspruch auf gesetzliche Regelung der Triage- Reihenfolge abgeleitet; aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE ist dieser Anspruch aber umfassender zu verstehen: Der Staat hat die ihm möglichen „kohärenten“ Vorkehrungen zu treffen, um derartige Triage- Situationen gar nicht erst entstehen zu lassen, aber auch zu gewährleisten, dass Menschen mit Immunschwächen sich nicht aufgrund ihrer Erkrankung selbst aus der Gesellschaft exkludieren müssen, um nicht selbst an Leib und Leben gefährdet zu werden. Eine solche „Eigenexkludierung“ wäre das Gegenteil des Inklusionsgedankens der UN-BRK.
In jedem Falle ist festzuhalten, dass Menschen aufgrund ihrer Erkrankung ihre Recht auf Teilhabe an der Gemeinschaft nicht in dem Maße ausüben können wie dies bei Menschen mit uneingeschränkt funktionierendem Immunsystem der Fall ist. Insoweit verletzt die Nichtgewährung des Schutzauftrages Menschen mit Immunschwächen in ihren grundgesetzlich garantierten Rechten aus Art. 2 Abs. 1, 2 Abs. 2, 3 Abs. 1 und Abs. 3 S. 2 GG.
Nach einem sehr beachtenswerten Beitrag von Hailbronner/Lührs/Züllig (4) kann ein solches kohärentes System auch zur Rechtfertigung der Verfassungsmäßigkeit der Regelung einer Impfpflicht beitragen:
„Zum einen könnte Prozeduralisierung im Sinne eines Erfordernisses verstanden werden, dass sich gesetzgeberische Maßnahmen in ein insgesamt kohärentes Regelungsregime einfügen lassen. Im deutschen Verfassungsrecht kann man dabei an Konsistenzerfordernisse in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 GG oder an die jüngste Rechtsprechung zur Bundesnotbremse denken. Eine Parallele ließe sich auch zur Verpflichtung zur kohärenten Rechtsetzung bei der Bekämpfung von Glücksspiel ziehen: Der EuGH erachtet ein staatliches Monopol (und damit zugleich die flächendeckende Kriminalisierung privater Anbieter) nur dann für gerechtfertigt, wenn der Staat die Bekämpfung der Gefahren des Glücksspiels „in systematischer und kohärenter Weise verfolgt“ (EuGH, 15.9.2011). Auf die Politik der Pandemiebekämpfung gemünzt, spräche dann einiges dafür, dass sich eine kollektive Inpflichtnahme Privater (mit ihrem Körper) – neben dem ganz grundsätzlichen Nutzenvorbehalt – nur rechtfertigen lässt, wenn der Staat zugleich seiner Gewährleistungsverantwortung im Gesundheitsbereich gerecht wird.“
Dies würde bedeuten, dass sich die Verfassungsmäßigkeit einer Impfpflicht einerseits aus dem grundrechtlich gewährleisteten Schutz der immungeschwächten Menschen aus Art. 2 Abs. 1, 2. Abs. 2 und Art. 3 Abs. 3 ergibt, andererseits aber auch aus einem kohärenten System aus Information der Bevölkerung über Pandemie, allgemeiner Impfpflicht und Maßnahmen zur Stärkung des Gesundheitssystems insgesamt.
Es wird insoweit darauf hingewiesen, dass das Bundesverfassungsgericht einen weiten Behinderungsbegriff verwendet, der auch Menschen mit chronischen Erkrankungen einschließt:
„Eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegt vor, wenn eine Person in der Fähigkeit zur individuellen und selbstständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist. Gemeint sind nicht geringfügige Beeinträchtigungen, sondern längerfristige Einschränkungen von Gewicht. Auf den Grund der Behinderung kommt es nicht an (BVerfGE 151, 1 <23 f. Rn. 54> m.w.N.). Nach diesen Maßgaben schützt das Grundrecht auch chronisch Kranke, die entsprechend längerfristig und entsprechend gewichtig beeinträchtigt sind (vgl. Eckertz-Höfer, in: AK-GG, 2001, Art. 3 Abs. 2, 3 Rn. 135; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 164; Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 Abs. 3 Rn. 112 <Aug. 2019>; vgl. auch Art. 1 Satz 2 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Behindertenrechtskonvention, BRK).“ (5)
Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht im einstweiligen Rechtsschutz stützt klar die Position, dass der Staat zum Schutz von Menschen mit Behinderung verpflichtet ist und insoweit eine allgemeine Impfpflicht auch zum Schutz der Grundrechte dieser besonders vulnerablen Gruppe angezeigt ist:
„Erginge dagegen die beantragte einstweilige Anordnung und hätte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg, sind die Nachteile, die sich aus der Nichtanwendung der angegriffenen Regelungen ergeben, ebenfalls von besonderem Gewicht. Hochaltrige Menschen sowie Menschen mit Vorerkrankungen, einem geschwächten Immunsystem oder mit Behinderungen (vulnerable Gruppen) wären dann in der Zeit bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde einer deutlich größeren Gefahr ausgesetzt, sich mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu infizieren und deshalb schwer oder gar tödlich zu erkranken. Nach der weitgehend übereinstimmenden Einschätzung der in diesem Verfahren angehörten sachkundigen Dritten ist nach wie vor – auch mit Blick auf die Omikronvariante des Virus – sowohl davon auszugehen, dass sich Angehörige vulnerabler Gruppen grundsätzlich leichter infizieren, weil bei ihnen – auch im Falle einer Impfung – ein von vornherein reduzierter und im Laufe der Zeit schneller abnehmender Immunschutz besteht, als auch, dass sie im Falle einer Infektion ein erhöhtes Risiko haben, schwer oder gar tödlich zu erkranken.“ (6)
„Der sehr geringen Wahrscheinlichkeit von gravierenden Folgen einer Impfung steht die deutlich höhere Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung von Leib und Leben vulnerabler Menschen gegenüber.im Falle einer Infektion ein erhöhtes Risiko haben, schwer oder gar tödlich zu erkranken." (7)
Insoweit hat die höchstrichterliche Rechtsprechung aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE in beiden Entscheidungen verdeutlicht, dass einerseits eine Schutzpflicht des Staates gegenüber Menschen mit Behinderungen besteht und andererseits bei der Güterabwägung die als verhältnismäßig gering eingestuften Einschränkungen der Impfskeptiker hinter der Gefährdung von Leib und Leben von vulnerablen Menschen zurückzustehen hat.
2. Ablehnung einer Begrenzung der Impfpflicht auf über 50jährige
Die BAG SELBSTHILFE hält eine Begrenzung der Impfpflicht auf über 50jährige nicht für sinnvoll, da es aus ihrer Sicht bereits an der Eignung der Maßnahme zum Schutz der Grundrechte auf Leben, Gesundheit und allgemeiner Handlungsfreiheit der Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen fehlt. Zwar mag es sein, dass mit dieser Impfpflicht eine Überlastung der Krankenhäuser vermieden werden kann, jedoch ist klar, dass eine solche Begrenzung die Herstellung einer dauerhaften Grundimmunität der Bevölkerung deutlich verlängert. Denn diese wird am wirksamsten durch eine geboosterte Grundimmunisierung mit anschließender Viertimpfung oder (mehrfacher) Infektion hergestellt, die auch einen Schutz vor weiteren Varianten bietet. Eine einfache Durchseuchung eines nichtgeimpften Bevölkerungsteils, etwa durch Omikron, dürfte wohl nach dem derzeitigen Kenntnisstand keinen Schutz vor Ansteckung mit einer erwartbaren weiteren Variante im Herbst bieten. Dies bedeutet für Menschen mit nur eingeschränktem Immunschutz nach Impfung Folgendes: Sie und ihre Familien müssen sich weiterhin isolieren und mit der Angst leben, sich dennoch anzustecken - bis zu dem Zeitpunkt, bis sich dann der ungeimpfte Bevölkerungsteil mehrfach angesteckt hat und insoweit eine gewisse allgemeine Grundimmunität in der Bevölkerung besteht, die das Zirkulieren des Virus deutlich herabsetzt. Insoweit werden mit der Impfpflicht ab 50 Jahren die Grundrechte derjenigen, die sich nicht wirksam selbst schützen können, länger eingeschränkt als dies notwendig ist. Sie ist daher kein gleichgeeignetes, aber milderes Mittel, da mit ihr der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit von Menschen mit Immunschwächen nicht wirksam gesichert werden kann.
Hinzu kommt, dass die Grenzziehung ein Stück weit als willkürlich angesehen werden könnte; denn ein erhöhtes Risiko für eine Krankenhausaufnahme haben nicht nur über 50jährige, sondern auch andere Personengruppen wie etwa Menschen mit starkem Übergewicht. Hier eine saubere und trennscharfe Regelung hinzubekommen, erscheint angesichts der sich ständig ändernden Studienlage – oft ohne RCT - zu den Risikogruppen schwierig und in seiner Gerichtsfestigkeit zweifelhaft.
3. Gefährdung des Gesundheitssystems und ggf. der kritischen Infrastruktur im Herbst
Ein Zirkulieren des Virus gefährdet nicht nur die medizinische Versorgung für viele Menschen, sondern über die massenhafte Ansteckung auch die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Grundversorgung mit Strom, Wasser und Lebensmitteln, da viele Menschen sich gleichzeitig anstecken können. Die Boosterung und Herstellung einer Immunität bei vielen hat dazu beigetragen, dieses Risiko derzeit etwas zu senken, da die Boosterung für eine gewisse Zeit das Risiko einer Infektion und damit seiner Weitergabe senken kann. Eine solche Risikoverringerung findet allgemein über Impfungen statt, selbst wenn sie mit einem gewissen Abstand zur Impfung etwas absinkt: Dennoch stecken sich Menschen mit einer Impfung selbst seltener an und geben das Virus auch seltener weiter. In einer Untersuchung der Charité – zu Delta – waren in 9 von 10 Fällen Ungeimpfte an der Übertragung des Virus beteiligt, eine Übertragung unter Geimpften kam selten vor. Dieses Prinzip dürfte auch bei Omikron – möglicherweise in abgeschwächter Form – gelten, wäre aber natürlich nach einem angepassten Impfstoff dann wiederum umfassend wirksam.
Insgesamt steht zu befürchten, dass das Gesundheitssystem in mehrerlei Hinsicht (weiter) belastet würde, wenn auf eine allgemeine Impfpflicht verzichtet wird. Dies sind:
- Punktuelle Überlastung der Krankenhäuser im Falle von weiteren Erkrankungswellen mit der Folge, dass wiederum notwendige Operationen verschoben werden
- Weitere Überlastung der Pflegefachkräfte und Ärzte, Burn-Outs oder Kündigungen mit der Folge einer Verschlechterung der Versorgungssituation insgesamt
- Möglicherweise Kündigung impfskeptischer Pflegefachkräfte und Ärzte und Abwanderung in einen anderen Beruf, um der einrichtungsbezogenen Impfpflicht zu entgehen
- Noch stärkere Belastung des Gesundheitssystems durch LongCovid
4. Eine für den Herbst wirksame Impfpflicht stellt keine Impfpflicht „auf Vorrat“ dar
Wenn dargestellt wird, dass eine Impfpflicht in Vorbereitung auf die erwartbare nächste Herbstwelle nicht zulässig ist, so verkennt dies, dass eine Impfpflicht im Herbst zu spät käme und insoweit nicht gleichgeeignet im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist. Denn nach wie vor gibt es eine erhebliche Impflücke in Deutschland und diese führt bei immer neuen Varianten zu immer neuen Ausbruchsherden in Bundesländern, die nur über eine geringe Impfquote verfügen. Selbst wenn Varianten entstehen, die den Impfschutz bzgl. der Infektion teilweise umgehen, so schützt die Impfung Menschen mit einem „normalen“ Immunsystem größtenteils zuverlässig gegen schwere Verläufe und Krankenhauseinweisungen und verhindert so die Überlastung der Krankenhäuser.
Eine solche Durchimpfung der noch nicht Geimpften benötigt jedoch Zeit: Denn auch wenn derzeit die Immunisierung mit zwei Dosen als Grundimmunisierung bezeichnet wird, scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass für eine grundsätzliche Immunisierung ein 3 Dosen Schema erforderlich ist – wie im Übrigen auch bei anderen Impfungen wie FSME. Dies benötigt aber Zeit, da die dritte Impfung frühestens nach 4,5 Monaten (6 Wochen Abstand für die Zweitimpfung sowie 3 Monate zur Drittimpfung) nach der ersten Impfung erfolgen kann. Eine Impfpflicht im Herbst käme damit viel zu spät und wäre damit also nicht gleichgeeignet im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips.
5. Neue medikamentöse Therapieoptionen
Derzeit werden neue Medikamente gegen die Covid-19 Erkrankung zugelassen oder befinden sich im Zulassungsverfahren. Sie sind vor allem für den frühen Einsatz bei Risikopatient*innen vorgesehen. So gilt etwa das neue Paxlovid als sehr effektiv, gerade bei Menschen mit Vorerkrankungen soll es das Risiko von sehr schweren Krankheitsverläufen um 89 Prozent senken; auch Antikörpertherapien scheinen teilweise noch wirksam zu sein. Gleichzeitig ist das Medikament Paxlovid offenbar bei einigen gesundheitlichen Problemen wie schwerer Nierenschwäche kontraindiziert und interagiert offenbar auch stark mit anderen Medikamenten (8); die Gabe von Immunsuppressiva bei gleichzeitiger Gabe von Paxlovid muss engmaschig überwacht werden, bei bestimmten Krebsmedikamenten ist die Gabe kontraindiziert. Vor diesem Hintergrund ist Paxlovid für viele Menschen mit chronischen Erkrankungen entweder kontraindiziert oder wegen ihres Medikamentenregimes mit erheblichen Risiken behaftet. Die Rettung ist das Medikament insoweit leider auch deswegen nicht unbedingt, da die vorhandenen Mengen voraussichtlich nicht den erforderlichen hohen Bedarf decken können. Insoweit spricht auch die Entwicklung der neuen Therapeutika nicht gegen die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht zum Schutz vulnerabler Gruppen.
Hinzukommt Folgendes: Die neuen Arzneimittel müssen in den ersten Tagen nach Symptombeginn genommen werden. Impfskeptiker werden zu diesem Zeitpunkt jedoch häufig optimistisch sein, dass ihr Immunsystem die Erkrankung auf natürlichem Wege in den Griff bekommt, wenn sie die Existenz der Krankheit Covid-19 überhaupt anerkennen. Vor diesem Hintergrund sind wahrscheinlich gerade diese Menschen schwer für das neue Arzneimittel zu erreichen, auch wenn sie zur Risikogruppe gehören. Sie tragen jedoch bei einer Krankenhauseinweisung zu einer Überlastung der Intensivstation und potentiell abgesagten Operationen bei. Insoweit sind gerade neue Arzneimittel wahrscheinlich wegen des Faktors „Mensch“ nicht geeignet, flächendeckend die Hospitalisierung von impfskeptischen Menschen zu verhindern. Im Übrigen lassen die bisherigen Erfahrungen auch befürchten, dass die Medikamente/ Therapien – insbesondere im ländlichen Bereich – oft nicht zu den (immunsupprimierten) Betroffenen kommen, da die ambulant tätigen Ärzte nicht die Möglichkeit haben, die Therapie in ihren Räumen durchzuführen; Antikörperzentren stehen nicht flächendeckend zur Verfügung.
6. Impfregister
Aus der Sicht der BAG SELBSTHILFE ist ein Impfregister eine sinnvolle und notwendige Bedingung für die Umsetzung einer Impfpflicht. Nur so kann sicher nachvollzogen werden, ob eine Impfung tatsächlich stattgefunden hat oder ob Nachweise gefälscht wurden. Insoweit dient ein Impfregister auch dem Schutz von Risikogruppen und deren Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben noch teilzuhaben. Bis zum Aufbau eines solchen Impfregisters sollten pragmatisch andere Lösungen zum Nachweis der Umsetzung einer Impfpflicht gefunden werden.
7. Situation der Kinder
Nach wie vor tragen die Kinder und ihre Familien - neben den besonders vulnerablen Menschen - die Hauptlast der Pandemie. Dies gilt besonders bei Kindern mit chronischen Erkrankungen oder mit Angehörigen, die unter chronischen Erkrankungen leiden. Auch zu ihrem Schutz sollte die vorgesehene Impfpflicht möglichst schnell kommen. So senkt etwa die Impfung der Eltern nach einer neueren Studie (9) das Risiko für Kinder erheblich, bei einem geimpften Elternteil um 26 Prozent, bei 2 geimpften Eltern sogar um 71 Prozent. Die Studie betraf allerdings einen Zeitraum, bevor Omikron auftrat; es muss aber davon ausgegangen werden, dass die Grundsätze – wahrscheinlich bei Omikron in abgeschwächter Form – auch bei anderen Varianten gelten.
Die Belastung aller Kinder und Jugendlichen ist hoch: Seit nunmehr fast zwei Jahren wird der Unterricht teilweise bei sehr geringen Temperaturen durchgeführt, Sport findet auch im Winter oft nur noch draußen statt, Tests werden alle zwei Tage durchgeführt, es werden durchgehend Masken getragen und gleichzeitig sind Kinder immer wieder mit der Situation konfrontiert, dass sie oder ihre Mitschüler wegen eines positiven Tests von den Eltern von der Schule abgeholt werden müssen – teilweise weinend. In den Familien wird teilweise thematisiert, ob Mitschüler geimpft sind; wer wegen impfkritischer Eltern eine Infektion in eine Klasse trägt, muss mit Wut und Frustration der anderen Kinder oder Eltern rechnen.
Vor diesem Hintergrund wird angeregt zu prüfen, ob eine Impfpflicht nicht auch für unter 18jährige geregelt werden kann. Auch die STIKO hatte ja die Empfehlung für die Impfung der 12-17jährigen mit den psychischen Folgen einer Infektion bzw. den evtl. notwendigen Schulschließungen begründet.
Beschränkt man die Impfpflicht auf die über 18jährigen, so bleibt das Risiko, dass Infektionen über die Schulen nach wie vor in die Familien eingetragen werden und so Menschen mit Immunschwächen einem erheblichen Risiko ausgesetzt sind. Auch dies belastet die Kinder selbst, da sie die Diskussionen in den Familien natürlich mitbekommen. Zudem ist dann auch der Schulbesuch von Kindern und Jugendlichen mit einer Immunschwäche immer wieder gefährdet, da sie sich einem erhöhten Risiko ausgesetzt sehen.
Hinzu kommt, dass die Intensivkapazitäten und die Normalversorgung bei den Kindern schon vor der Pandemie am Limit waren; Kinderherzoperationen mussten wegen Personalmangel abgesagt werden. Vor diesem Hintergrund würde eine Variante, die die Kinder in stärkerem Maße als bisher betreffen würde, verheerende Folgen haben, da die Versorgungssituation im Bereich der Kinderversorgung noch angespannter als im Erwachsenenbereich ist und war. Somit sollte eine Impfpflicht für unter 18jährige auch unter dem Aspekt einer Verhinderung von Überlastungssituationen des Gesundheitssystems geprüft werden.
Düsseldorf/ Berlin, 24.2.2022
(1) Oppenländer Rechtsanwälte, Gutachterliche Stellungnahme zu Zulässigkeit und Möglichkeiten der Ausgestaltung einer allgemeinen Impfpflicht gegen COVID19, zit. nach www.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/dateien/PDF/Coronainfos/211212_Gutachterliche_Stellungnahme_zu_Impfpflichten_Korrigierte_Fassung_Seite67.pdf Dieses Dokument in neuem Tab öffnen und vorlesen
(2) Landesregierung Baden-Württemberg, zit. nach www.baden-wuerttemberg.de/de/service/alle-meldungen/meldung/pid/gutachten-zur-impfpflicht/
(3) BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 2021, 1 BvR 1541/20, 2. Leitsatz, zit. nach: www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/12/rs20211216_1bvr154120.html
(4) Hailbronner, Lührs, Züllig: Verfassungsmäßigkeit einer Impfpflicht- Plädoyer für eine prozedurale Perspektive, in Verfassungsblog, zit. nach: https://verfassungsblog.de/verfassungsmasigkeit-einer-impfpflicht/ ; Hervorhebungen nachträglich
(5) BVerf, Beschluss vom 16. Dezember 2021, 1 BvR 1541/20, Rn. 90, zit. nach: www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/12/rs20211216_1bvr154120.html
(6) BVerfG, Beschluss vom 10.2.2022, 1 BvR 2649/21, Rn. 18 zit. https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2022/02/rs20220210_1bvr264921.html;jsessionid=1AB805F4A3B6C748AE143D74F91CEA30.2_cid329
(7) BVerfG, , Beschluss vom 10.2.2022, 1 BvR 2649/21, Rn. 23 zit. www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2022/02/rs20220210_1bvr264921.html;jsessionid=1AB805F4A3B6C748AE143D74F91CEA30.2_cid329
(8) Fact Sheet for Health Care Providers der FDA zit. nach https://www.fda.gov/media/155050/download
(9) Hayek et alt. Indirect protection of children from SARS-CoV-2 infection through parental vaccination, in Science: https://www.science.org/doi/10.1126/science.abm3087?utm_campaign=SciMag&utm_source=Social&utm_medium=Twitter