Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung (SGB III-Modernisierungsgesetz) (Stand: 18.06.2024)

Für die Möglichkeit zur Stellungnahme zu dem o.g. Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales möchte die BAG SELBSTHILFE herzlich danken.

Als Dachverband von 121 Bundesorganisationen der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen und von 13 Landesarbeitsgemeinschaften nehmen wir zu dem Referentenentwurf wie folgt Stellung:

1. Zielsetzung des Entwurfes:
Die BAG SELBSTHILFE begrüßt zusammen mit ihren Mitgliedsverbänden, dass mit dem vorliegenden Referentenentwurf die Arbeitsförderung sowie Arbeitslosenversicherung modernisiert werden, um diese bürgerfreundlicher, transparenter, effizienter sowie unbürokratischer zu gestalten. Zu diesem Zweck sollen der Vermittlungsprozess weiterentwickelt, das Recht der Arbeitslosenversicherung vereinfacht sowie auch vorhandene Förderinstrumente zielgerichtet angepasst werden. Dementsprechend sollen Digitalisierung sowie Automatisierung im Rahmen einer Grundsatznorm mit programmatischem Charakter im SGB III gesetzlich verankert werden. Auch ist begrüßenswert, dass im Rahmen der aktiven Arbeitsförderung eine ganzheitliche Beratung und Betreuung gewährleistet werden sollen, mit dem Ziel, die konkrete Lebenssituation junger Menschen in den Blick zu nehmen sowie eine darauf zugeschnittene Hilfestellung anzubieten.

2. Ergänzungs-/Änderungsbedarfe:
Die BAG SELBSTHILFE und ihre Mitgliedsverbände sehen jedoch folgende Änderungs- bzw. Ergänzungsbedarfe:

§ 11 SGB III n.F.: Informationstechnik der Bundesagentur
Nach dieser Vorschrift – Grundsatznorm zur Digitalisierung und Automatisierung - sollen strategische Zielmarken für die Digitalisierung und Automatisierung in der Bundesagentur für Arbeit gesetzt werden. Dies umfasst die Weiterentwicklung zeitgemäßer digitaler Verwaltungsangebote, die Digitalisierung und Automatisierung von Verwaltungsabläufen, den Einsatz von informationstechnischen Infrastrukturen, welche die Flexibilität bei der Umsetzung neuer Anforderungen erhöhen, sowie die Erprobung und den Einsatz neuer Technologien für die Leistungserbringung (z.B. im Bereich künstlicher Intelligenz).

Diese für die Bürger*innen bereitgestellten Verwaltungsangebote einschließlich zu entwickelnder informationstechnischer Infrastrukturen müssen grundsätzlich barrierefrei zur Verfügung gestellt werden. Unter Bezugnahme auf § 4 BGG sind „barrierefrei bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen sowie Kommunikationseinrichtungen und andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind“. Zudem müssen die Vorgaben in §§ 10, 11 BGG für die Verwaltungsangebote der Agentur für Arbeit einschließlich der zu entwickelnden informationstechnischen Infrastrukturen verbindlich gelten. Auch ist gesetzlich zu verankern, dass bei Erstellung elektronischer Dokumente einschließlich der Digitalisierung erforderlicher Verwaltungsabläufe sowie digitaler Verwaltungsangebote die Anforderungen nach der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) in ihrer jeweils geltenden Fassung zu beachten sind. Dazu zählen im Weiteren auch die Vorschriften bzw. Richtlinien der WCAG 2.1 (Web Content Accessibility Guidelines), welche auch für die europäische Norm EN 301 549 adaptiert worden sind.

Darüber hinaus sind für die geplante fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung im Bereich der Arbeitsförderung sowie Arbeitslosenversicherung die Vorgaben der EU-Richtlinie 2016/2102 über den barrierefreien Zugang zu den Webseiten und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen zu beachten. Diese EU-Richtlinie verpflichtet öffentliche Stellen – und damit auch die Bundesagentur für Arbeit - von der Bundes- über die Landes- bis hin auch zur kommunalen Ebene zu barrierefreien Webangeboten.

Nach § 3 Abs. 4 BITV 2.0 ist ein „höchstmögliches Maß an Barrierefreiheit“ herzustellen. Dies bedeutet, dass die digitalen Angebote der Bundesagentur für Arbeit nicht nur in allgemeinverständlicher Sprache zur Verfügung zu stellen sind, sondern für Menschen mit Behinderung – je nach Beeinträchtigungsart – beispielsweise auch in Leichter Sprache oder in Gebärdensprache. In der BITV 2.0 wird gefordert, dass Angebote, Anwendungen und Dienste der Informationstechnik für Menschen mit Behinderung wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust sein müssen (vgl.: § 3 I BITV 2.0). Durch das Prinzip der Wahrnehmbarkeit soll sichergestellt werden, dass Funktionen und Informationen so präsentiert werden, dass sie von jedem Nutzenden überhaupt bemerkt werden können. Wichtig ist in diesem Zusammenhang das Zwei-Sinne-Prinzip, d.h., dass Informationen über zwei unterschiedliche Sinneskanäle wahrgenommen werden können. Damit die Nutzenden mit den zukünftigen digitalen Angeboten der Bundesagentur für Arbeit auch interagieren können, müssen diese auch für Menschen mit Behinderung bedienbar sein, dazu gehören u.a. die Tastaturbedienbarkeit, auf welche insbesondere Menschen mit motorischer Beeinträchtigung oder Blindheit bzw. einer Sehbeeinträchtigung angewiesen sind.

Ferner müssen Zeitbegrenzungen für einzelne Interaktionsschritte für alle Menschen ausreichend sein, die Orientierung wird über eindeutige und klare Linktexte und über verschiedene Navigationswege unterstützt. Was das Prinzip der Verständlichkeit angeht, so müssen die Inhalte für das größtmögliche Publikum gut lesbar und verständlich sein, und zwar auch dann, wenn sie laut vorgelesen werden. Was das Prinzip der Robustheit betrifft, so bedeutet dies eine hohe Kompatibilität der bereitgestellten Inhalte mit den genutzten Benutzeragenten (insbesondere dem Webbrowser) und assisitiven Technologien (insbesondere einem Screen-Reader).

Diese vier genannten Kriterien der Barrierefreiheit finden sich auch in der europäischen Norm EN 301 549 sowie in der WCAG 2.1 wieder. Insoweit ist es wichtig, mit ausdrücklichem Verweis auf das BGG auch auf die BITV 2.0, die WCAG 2.1 sowie die EN 301 594 im Referentenentwurf hinzuweisen, um auch diese vier Grundprinzipien bei den im Referentenentwurf geplanten digitalen Angeboten seitens der Bundesagentur für Arbeit verbindlich zu beachten. Auch unter Verweis auf Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“) ist das Grundprinzip der Barrierefreiheit im Rahmen der zu entwickelnden Informationstechnik der Bundesagentur für Arbeit ausdrücklich gesetzlich zu verankern, um das in der UN-BRK verbriefte Menschenrecht einer inklusiven Gesellschaft auch tatsächlich umzusetzen.

§ 28b SGB III n.F.: Umfassende Beratung
Die BAG SELBSTHILFE begrüßt, dass die Ausrichtung der Beratung für junge Menschen erweitert werden soll in dem Sinne, dass die Unterstützung beratend, begleitend und auch aufsuchend erfolgen kann mit dem Ziel, insbesondere jungen Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf eine ganzheitliche Beratung und Betreuung zukommen zu lassen. Allerdings erachten wir in diesem Zusammenhang eine gesetzliche Formulierung in der Weise für angezeigt, wonach die Leistung aufsuchend zu erbringen ist, wenn dies von Seiten des jungen Menschen ausdrücklich gewünscht ist (§ 28 b II SGB III n.F.).

§ 37 SGB III n.F.: Weiterentwicklung der Eingliederungsvereinbarung
Gemäß dieser Vorschrift soll der Eingliederungsprozess in den Agenturen für Arbeit weiterentwickelt werden. Nach 37 Abs. 2 SGB III n.F. soll die Bundesagentur für Arbeit aufbauend auf der Potenzialanalyse unverzüglich zusammen mit der oder dem Ausbildungssuchenden oder der oder dem Arbeitssuchenden einen individuellen Plan zur Eingliederung in Ausbildung oder Arbeit (Kooperationsplan) erstellen. In diesem Kooperationsplan sollen insbesondere festgehalten werden die Beratungsaktivitäten und Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit, welche Eigenbemühungen die oder der Ausbildungssuchende oder die oder der Arbeitssuchende in welcher Häufigkeit mindestens unternimmt und in welcher Form sie oder er diese nachweist. „In diesem werden das Eingliederungsziel und die wesentlichen Schritte zur Eingliederung in allgemeinverständlicher Sprache gemeinsam festgehalten …. Die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen und schwerbehinderten Menschen sollen angemessen berücksichtigt werden.“

Diesbezüglich erachten wir einerseits eine Konkretisierung für notwendig, es muss gesetzlich eingefügt werden, dass für Menschen mit Behinderung – je nach Art der Beeinträchtigung - einschließlich schwerbehinderter Menschen der zu erstellende Kooperationsplan nicht lediglich in allgemeinverständlicher Sprache gemeinsam festzuhalten, sondern auch in Leichter Sprache zu verfassen ist für Menschen mit einer Lernbeeinträchtigung oder auch unter Hinzuziehung von Gebärdensprachdolmetschern mit gehörlosen Menschen bzw. mit Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung zu kommunizieren ist. Zum anderen ist dieser Satz als „Mussvorschrift“ zu formulieren, d. h. „die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen und schwerbehinderten Menschen müssen angemessen berücksichtigt werden“.

§ 38 SGB III n.F.: Rechte und Pflichten der Ausbildungs- und Arbeitssuchenden
Nach § 38 Abs. 4 SGB III n.F. soll neu eingefügt werden: „S. 2 und 3 gilt nicht für Menschen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.“

Diese neu eingefügte Ausnahmeregelung soll jedoch unseres Erachtens auch für Menschen mit Behinderung einschließlich schwerbehinderter Menschen gelten. (§ 38 Abs. 4 S. 2 und 3 besagen: „Im Übrigen kann die Agentur für Arbeit die Arbeitsvermittlung einstellen, wenn die oder der Arbeitssuchende die ihr oder ihm nach Abs. 3 oder der Eingliederungsvereinbarung oder dem Verwaltungsakt nach 37 Abs. 3 S. 4 obliegenden Pflichten nicht erfüllt, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben. Die oder der Arbeitssuchende kann die Arbeitsvermittlung erneut nach Ablauf von zwölf Wochen in Anspruch nehmen.“)

§ 82 SGB III n.F.: Förderung beschäftigter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Gemäß Referentenentwurf wird der bisherige Abs. 7 aufgehoben, Abs. 8 wird zu Abs. 7 und Abs. 9 wird zu Abs. 8. Nach Abs. 8 (neu) werden behinderungsbedingt „erforderliche“ Mehraufwendungen, die im Zusammenhang mit der Teilnahme an einer nach Abs. 1 geförderten Maßnahme entstehen, übernommen.
In diesem Absatz sollte allerdings aus Gründen der Rechtsklarheit das Wort „erforderliche“ gestrichen werden, weil diese Formulierung unseres Erachtens dazu führt, dass es unterschiedliche Auffassungen zur Frage der Erforderlichkeit geben wird.

§ 138 SGB III n.F.: Arbeitslosigkeit
Danach soll Abs. 5 Nr. 2 neu gefasst werden: „2. sich im Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs oder im grenznahen Ausland aufhält und werktäglich Mitteilungen und Vorschläge der Agentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung zur Kenntnis nehmen kann“. Mit dieser gesetzlichen Änderung soll das Erreichbarkeitsrecht modernisiert werden, was wir ausdrücklich begrüßen.

§ 140 Abs.4 SGB III n.F.: Zumutbare Beschäftigungen
Danach ist einer arbeitslosen Person „eine Beschäftigung auch nicht zumutbar, wenn die täglichen Pendelzeiten zwischen „der zuletzt der Agentur für Arbeit mitgeteilten“ Wohnung und der Arbeitsstätte im Vergleich zur Arbeitszeit unverhältnismäßig lang sind. Als unverhältnismäßig lang sind im Regelfall Pendelzeiten von insgesamt mehr als zweieinhalb Stunden bei einer Arbeitszeit von mehr als 6 Stunden und Pendelzeiten von mehr als 2 Stunden bei einer Arbeitszeit von 6 Stunden und weniger anzusehen. Sind in einer Region unter vergleichbaren Beschäftigten längere Pendelzeiten üblich, bilden diese den Maßstab. Ein Umzug …“

Die in dieser Vorschrift noch als zumutbar definierten Pendelzeiten (bis 2,5 Std. bei einer Arbeitszeit von mehr als 6 Std. bzw. bis 2,0 Std. bei einer Arbeitszeit von 6 Std. und weniger) einer arbeitslosen Person dürfen unseres Erachtens jedoch nicht für Menschen mit Behinderung einschließlich schwerbehinderter Menschen gelten. Vielmehr muss hier dem jeweiligen Einzelfall und somit den individuellen Bedürfnissen des beeinträchtigten Menschen hinreichend Rechnung getragen werden. Dies sollte mithin gesetzlich ausdrücklich normiert werden.

§ 141 Abs. 4 SGB III n.F.: Arbeitslosmeldung
Danach wird neu geregelt: „Die zuständige Agentur für Arbeit soll mit der oder dem Arbeitslosen unverzüglich nach Eintritt der Arbeitslosigkeit ein Beratungsund Vermittlungsgespräch führen, das persönlich oder, wenn ein persönliches Gespräch nicht erforderlich ist, bei Einvernehmen zwischen der Agentur für Arbeit und der oder dem Arbeitslosen auch per Videotelefonie geführt werden kann.“

Wir begrüßen die Möglichkeit der Inanspruchnahme per Videotelefonie ausdrücklich, weil Optionen moderner Kommunikation auf Grundlage digitaler Medien genutzt werden, um die Betreuung arbeitsloser Menschen zu erleichtern und zu verbessern. Unstrittig kann Videotelefonie dabei helfen, Wegezeiten zu vermeiden und sie bietet zusätzliche Chancen für Personen, welche Schwierigkeiten haben, persönlich in der Agentur für Arbeit vorzusprechen.

Jedoch ist der neuen gesetzlichen Regelung nicht zu entnehmen, wann ein persönliches Gespräch als „nicht erforderlich“ angesehen werden soll. Ebenso erscheint es unseres Erachtens angezeigt, ausdrücklich gesetzlich festzuhalten, dass von der Möglichkeit der Videotelefonie nicht gegen den Wunsch des Arbeitslosen Gebrauch gemacht werden darf. Die Formulierung „im Einvernehmen“ erscheint in diesem Zusammenhang zu unkonkret. Zudem ist auch bei Nutzung der Videotelefonie die Barrierefreiheit - wie oben ausgeführt - zu beachten, um auch Menschen mit Behinderung sowie chronisch kranken Menschen die Möglichkeit zu geben, diese Kommunikationsform in Anspruch zu nehmen.

3. Fazit:
Mit vorliegendem Referentenentwurf begrüßen wir die Einleitung und Umsetzung weiterer Digitalisierungsschritte zur Modernisierung der aktiven Arbeitsförderung und Arbeitslosenversicherung. Tatsache ist, dass die zunehmende Digitalisierung auch das Arbeitsleben der Menschen in einem immer höheren Maße begleitet (z.B. bei der Anbahnung einer neuen Beschäftigung als auch der Möglichkeit der mobilen Arbeit). Jedoch sind bei all diesen geplanten Digitalisierungsschritten alle Menschen in den Blick zu nehmen, d. h. auch Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen sowie auch ältere Menschen. Auch diese Personen müssen die Chance erhalten, die digitalen Angebote der Bundesagentur für Arbeit niedrigschwellig und barrierefrei nutzen zu können.

Berlin/Düsseldorf, den 22.07.2024

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