Stellungnahme zu den Anträgen der Fraktion der CDU/CSU und DIE LINKE - Inklusive Arbeit stärken - Anhörung am 25.04.2022 im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages

Für die Möglichkeit der Stellungnahme zu den o.g. Anträgen möchte die BAG SELBSTHILFE herzlich danken. Als Dachverband von 117 Bundesorganisationen der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen und von 12 Landesarbeitsgemeinschaften nehmen wir zu den oben genannten Anträgen wie folgt Stellung:

1. Antrag der Fraktion der CDU/CSU „Potentiale nutzen – inklusive Arbeitswelt stärken“ vom 15.03.2022:

Die BAG SELBSTHILFE teilt ausdrücklich die Feststellungen des Antrages der CDU/CSU-Fraktion zu den Maßgaben des Art. 27 der UN-Behindertenrechts-konvention zur Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarktes sowie zur höchst unbefriedigenden Beschäftigungssituation von Menschen mit Behinderung in Deutschland.

Auch die BAG SELBSTHILFE ist der Auffassung, dass die Potentiale der bereits vorhandenen Rechtsansprüche und Förderprogramme noch nicht voll ausgeschöpft sind und dass es zusätzlicher Maßnahmen bedarf, um die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben zu verbessern und zu sichern.

1) Primäres Ziel muss es sein, Menschen mit Behinderungen möglichst einen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu eröffnen. 

a)

Die nach wie vor hohe Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderungen ist in keiner Weise hinnehmbar. Gerade im Zuge der Auswirkungen der Covid 19 Pandemie ist zu verzeichnen, dass die Zahlen der arbeitslosen Menschen mit Behinderungen im Pandemiezeitraum rapide angestiegen sind; allein in dem Zeitfenster von Januar 2020 bis Januar 2021 stieg die Zahl der arbeitslosen Menschen mit Behinderungen von 161.075 auf 180.047 an. Dies bedeutet konkret einen Anstieg um 10,5 %.

Besonders bedenklich ist aus Sicht der BAG SELBSTHILFE auch, dass selbst die gesetzlich vorgeschriebenen Beschäftigungsquoten vielfach nicht eingehalten werden.

So wird die gesetzliche Beschäftigungsquote von 5 % bei privaten Arbeitgebern nur mit lediglich 4,1 % erfüllt, d. h. von 168.639 beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern haben bspw. im Jahr 2018 in Deutschland über 42.000 Arbeitgeber keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigt. Diese Zahlen belegen eindeutig, dass sich auch die jetzige Bundesregierung nicht länger auf „Appelle an den guten Willen“ der Arbeitgeber beschränken darf, sondern dass die Beschäftigungspflicht endlich konsequent eingefordert und auch umgesetzt werden muss. Daher begrüßt die BAG SELBSTHILFE ausdrücklich die nun im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung vorgesehene Weiterentwicklung der Ausgleichsabgabe.

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE sollte in diesem Zusammenhang auch das öffentliche Vergaberecht weiterentwickelt werden. Ähnlich wie bei Verstößen gegen das Lieferkettengesetz sollte auch die Nichtbeachtung der Beschäftigungspflicht zulasten der Bewerber in öffentlichen Ausschreibungen gehen.

b)

Die BAG SELBSTHILFE teilt die Auffassung der CDU/CSU-Fraktion, dass auch die Beratung und Unterstützung der Unternehmen eine wichtige Rolle spielt, um Menschen mit Behinderungen den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu eröffnen. Die neu geschaffenen Ansprechstellen für Unternehmen nach § 185 a SGB IX sollen diese Aufgabe übernehmen.

Die von der CDU/CSU-Fraktion in diesem Zusammenhang aufgestellte Forderung, auch zeitnah die flächendeckende Einrichtung der Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber im Sinne von § 185 a SGB IX zu forcieren, ist daher grundsätzlich zu begrüßen.

Allerdings ist nach wie vor unklar, welche zusätzlichen Akzente die neuen Stellen im Vergleich zu der unstreitig sehr wertvollen Arbeit der Integrationsfachdienste setzen sollen. Diese Unklarheit wird dort sehr deutlich, wo die Integrationsfachdienste selbst die neue Aufgabe mit übernehmen sollen.

Folglich bleibt der aktuelle Entwurf der BAR zur Gemeinsamen Empfehlung „Integrationsfachdienste“ in diesem Punkt sehr schillernd.

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE wäre es äußerst wünschenswert, wenn der Unterschied zwischen der „Unterstützung von Unternehmen und Arbeitnehmern mit Behinderungen“ von der „Unterstützung von Unternehmen zur Beschäftigung von Arbeitnehmern mit Behinderungen“ zeitnah konzeptionell klar herausgearbeitet werden könnte.

Ansonsten besteht die Gefahr, dass viele Köche dann doch den Brei der Teilhabe am Arbeitsleben verderben, indem vieles in der Praxis zerredet wird.

Des Weiteren ist sicherzustellen, dass die Einheitlichen Ansprechstellen für Unternehmen über dieselbe persönliche und fachliche Qualifikation verfügen wie die Integrationsfachdienste.

Vor diesem Hintergrund hat die BAG SELBSTHILFE zwar keine prinzipiellen Einwände dagegen, auch andere Akteure mit der Wahrnehmung der Aufgabe einer Ansprechstelle für Unternehmen zu betrauen. Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE verfügen aber vor allem die Integrationsfachdienste über die notwendige persönliche und fachliche Qualifikation, um auf der einen Seite Menschen mit Behinderungen zu unterstützen und um auf der anderen Seite auch entsprechend ihrer Aufgabenerweiterung die potenziellen Arbeitgeber zu beraten. Insoweit sollte dieses bereits vorhandene Potenzial auch genutzt werden.

In diesem Zusammenhang ist der im Antrag der CDU/CSU-Fraktion angesprochene zusätzliche Einsatz von sog. Inklusions-Coaches, welche durchaus durch entsprechende bundesweite Modellprojekte gefördert werden sollten, nach unserem Dafürhalten eher als flankierende Maßnahme einzustufen.

Leider sind die regionalen Unterschiede hinsichtlich der Verfügbarkeit solcher Coaches, hinsichtlich ihrer Aufgabenstellungen und hinsichtlich ihrer Qualifikation noch zu unterschiedlich, um als bundesweit etablierter Akteur gelten zu können.

Insgesamt teilt die BAG SELBSTHILFE die Einschätzung der CDU/CSU-Fraktion, dass es künftig verstärkter Anstrengungen bedarf, um insbesondere die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen in kleineren Betrieben zu ermöglichen. In der Tat könnte dies ein wichtiges Betätigungsfeld der Ansprechstellen für Unternehmen werden. Allerdings ist die BAG SELBSTHILFE der Auffassung, dass gerade kleine Unternehmen auch in Netzwerke eingebunden und nicht nur individuell angesprochen werden sollten. Nur so kann nämlich eine fallübergreifende Kompetenz und ggf. auch lokale Unterstützungsinfrastruktur aufgebaut werden, die in großen Betrieben viel leichter vorzuhalten ist.

 2) Die Förderung von Menschen mit Behinderungen muss verstärkt werden, um den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern.

Die BAG SELBSTHILFE begrüßt grundsätzlich die Forderung der CDU/CSU-Fraktion, dass die Übergänge von der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen in den ersten Arbeitsmarkt erleichtert werden müssen. Modelle des kooperativen Vorgehens von Werkstätten und den neuen Arbeitgebern müssen auch aus Sicht der BAG SELBSTHILFE weiter erprobt sowie auch flächendeckend umgesetzt werden.

Insgesamt muss ein partizipativer Prozess zur Reform der Werkstätten in Gang gesetzt werden. Gerade die aktuelle Diskussion zu den Entgelten für Werkstattbeschäftigte im Kontext des Mindestlohns zeigt, dass der Aspekt der Förderung in den letzten Jahren in der Konzeption des Alltags vieler Werkstätten nicht deutlich genug zum Ausdruck gekommen ist. Dies gilt insbesondere für die Beschäftigten, deren Arbeitsleistung in den Werkstätten als besonders gut eingestuft wurde.

Im Hinblick darauf ist es – hierauf wird im Antrag der CDU/CSU-Fraktion zurecht hingewiesen- wichtig zu betonen, dass die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen insbesondere den Auftrag haben, die Menschen mit Behinderungen nicht nur zu bilden, sondern auch zu fördern sowie auch letztlich auf den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten. Es sollte anzustrebendes Ziel sein, dass es sich zukünftig für eine Werkstatt - auch unter finanziellen Gesichtspunkten - lohnt, wenn sie einen Menschen mit Behinderung für den ersten Arbeitsmarkt qualifiziert.

Hier besteht aus Sicht der BAG SELBSTHILFE durchaus gesetzgeberischer Klarstellungsbedarf.

Die Reformdiskussion zu den Werkstattentgelten sollte aus Sicht der BAG SELBSTHILFE an diese Klarstellungen geknüpft werden.

Andererseits ist aber auch die Vorschrift des § 219 Abs. 2 SGB IX („…Erbringung eines Mindestmaßes wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung…“) ersatzlos zu streichen, gerade um für alle Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben zu gewährleisten.

Im Weiteren begrüßt die BAG SELBSTHILFE die Forderung von Seiten der CDU/CSU-Fraktion, dass der Zugang von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, insbesondere Werkstattbeschäftigten, zu niedrigschwelligen Beschäftigungsangeboten verbessert wird und dass in diesem Rahmen die mit dem Bundesteilhabegesetz neu geschaffene Möglichkeit der Beschäftigung bei anderen Leistungsanbietern nach § 60 SGB IX evaluiert und ggf. auch attraktiver gestaltet wird.

Neben den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen spielen auch aus Sicht der BAG SELBSTHILFE die Inklusionsbetriebe eine wichtige Rolle bei der Ermöglichung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben.

Daher begrüßt es die BAG SELBSTHILFE grundsätzlich, dass die derzeit in Deutschland vorhandenen Inklusionsbetriebe auch zukünftig unterstützt und somit auf eine sichere finanzielle Basis gestellt werden. Auch hinsichtlich der Inklusionsunternehmen sieht die BAG SELBSTHILFE aber Klärungsbedarf, auf welche Weise und anhand welcher Standards dort der Aspekt der Förderung von Menschen mit Behinderungen vorangetrieben wird.

Mit dieser Einschränkung kann auch dem Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion gefolgt werden, Inklusionsunternehmen künftig bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu privilegieren.

3) Das Budget für Arbeit und das Budget für Ausbildung müssen aus ihrer Nischenrolle herausgeholt werden

Auch die BAG SELBSTHILFE ist der Ansicht, dass die Nutzbarkeit der Budgets für Arbeit und der Budgets für Ausbildung verbessert werden sollten. Neben einer Informationsoffensive gegenüber Unternehmen und Werkstätten hält die BAG SELBSTHILFE es aber auch für erforderlich, dass interessierte Menschen mit Behinderungen künftig ganz individuelle hinsichtlich der Inanspruchnahme der Budgets durch Coaches unterstützt werden, die allein im Interesse der Betroffenen tätig werden.

Menschen mit Behinderungen brauchen mehr Teilhabe und Wahlmöglichkeiten im Arbeitsleben und in diesem Kontext wird auch nach unserem Dafürhalten in Zukunft regelmäßig zu beobachten sein, ob die neu geschaffenen Instrumente des Budgets für Arbeit oder auch der anderen Anbieter tatsächlich Übergänge aus der Werkstatt unterstützen und qualitativ gute Alternativen für die Menschen mit Behinderungen beinhalten.

Die BAG SELBSTHILFE teilt die Forderung der CDU/CSU-Fraktion, dass das Budget für Arbeit attraktiver werden sollte, indem die Begrenzung des Lohnkostenzuschusses auf max. 40% der Bezugsgröße nach § 18 SGB IV aufgehoben und somit eine Förderung der Beschäftigung außerhalb des Niedriglohnsektors erleichtert wird.

Was die vonseiten der CDU/CSU-Fraktion aufgestellte Forderung anbelangt, dass die Bandbreite des Budgets für Ausbildung durch eine Erweiterung des Anwendungsbereiches des § 61a SGB IX auf Inklusionsbetriebe erhöht werden sollte, verweist die BAG SELBSTHILFE wiederum auf den Klärungsbedarf, nach welchen Standards in den Inklusionsbetrieben die Förderung der Menschen mit Behinderung neben der Beschäftigung stattfindet.

4) Die Stärkung der Teilhabe am Arbeitsleben erfordert auch eine Weiterentwicklung des betrieblichen Eingliederungsmanagements

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE müssen die Leistungen des SGB IX im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben auch im Bereich des Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) ergänzt werden. Konkret bedeutet dies, dass im SGB IX ein individueller Rechtsanspruch für Beschäftigte auf Durchführung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements einzuführen ist. Die Verweigerung des Arbeitgebers, ein beschäftigungssicherndes Eingliederungsmanagement durchzuführen, muss nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE grundsätzlich zur Unwirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung führen.

5) Digitalisierung und Teilhabe am Arbeitsleben

Eine zukunftsgerichtete inklusive Arbeitsmarktpolitik - so wie es auch die CDU/CSU-Fraktion fordert - beinhaltet natürlich auch eine Stärkung der digitalen Teilhabe, nicht nur im Bereich der Infrastruktur, sondern auch in weiteren Bereichen, insbesondere auch dem Bereich der Wissens- und Kompetenzvermittlung.

In diesem Kontext wäre es auch aus Sicht der BAG SELBSTHILFE zu begrüßen, wenn ein bundesweites Förderprogramm aufgelegt würde, um die barrierefreie digitale Infrastruktur in außerbetrieblichen Ausbildungsstätten wie Berufsförderungswerken, Berufsbildungswerken und WfbM zu verbessern.

Des Weiteren begrüßt die BAG SELBSTHILFE auch den Vorschlag, den Einsatz digitaler Medien grundsätzlich für eine verstärkte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt, stärker zu nutzen.

Die Teilhabe von Menschen am Arbeitsleben darf aber nicht nur dadurch gefördert werden, dass Menschen mit Behinderungen mit Hilfe digitaler Unterstützung auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet werden. Der erste Arbeitsmarkt selbst muss künftig (digital) barrierefrei ausgestaltet werden.

Daher muss die im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung angekündigte Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes sowie die Nachbesserung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes nun unmittelbar angegangen werden.

Es ist aus Sicht der BAG SELBSTHILFE essentiell, dass künftig zur Sicherung der Teilhabe jede beruflich genutzte Software sowie alle genutzten digitalen Anwendungen barrierefrei programmiert sein müssen; alle Arbeitgeber müssen die Nutzung von assistiven Technologien ermöglichen, ferner müssen sicherheitstechnische Probleme ausgeräumt werden und dürfen Menschen, die auf technische Hilfsmittel angewiesen sind, nicht von der Arbeitswelt ausschließen.

Die digitale Barrierefreiheit muss somit nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE konsequent umgesetzt und auch gesetzlich verankert werden, gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Digitalisierung in der Gesellschaft mittlerweile fast alle Lebensbereiche erfasst hat.

6) Inklusive Bildung ist die Grundlage für eine inklusive Arbeitswelt

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE müssen die Anstrengungen zur Umsetzung einer inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Deutschland weiter forciert und umgesetzt werden, d. h auch der Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung an einer allgemeinen Schule ist nach der UN-Behindertenrechtskonvention zwingend zu gewährleisten.

Die Zahl der Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf an Regelschulen steigt zwar, aber die Zahl der Kinder, die in Sonderschulen separiert werden, bleibt weiterhin konstant. Es muss somit auch nach unserem Dafürhalten eine verbindliche Gesamtstrategie zu einer inklusiven Bildung aufgestellt werden. Des Weiteren muss das strikte Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern im Bildungsbereich zugunsten der Inklusion aufgehoben werden, damit der Bund auch seiner Pflicht zur Unterstützung inklusiver Bildungsangebote, gerade auch im Schulbereich, endlich nachkommen kann.

Nicht nur die Barrierefreiheit der Digitalisierung in der Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt muss vorangetrieben werden, sondern auch die Barrierefreiheit der Digitalisierung der Schulen muss umgehend ein Bildungsstandard werden.

7) Grenzüberschreitende Beschäftigung

Schlussendlich ist aus Sicht der BAG SELBSTHILFE auch der von der CDU/CSU-Fraktion erhobenen Forderung zuzustimmen, dass es für alle Menschen mit Behinderungen grenzüberschreitende Arbeitsmöglichkeiten im Sinne der EU-Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen geben sollte. Diese Rechte sollten in der Tat verbessert werden sowie auch die Möglichkeit, in einem anderen EU-Mitgliedstaat zur Beschäftigungsaufnahme eine Feststellung der Behinderung bzw. der Gleichstellung auf Basis von Art. 1 Abs. 2, Art. 5 VO (EU) Nr. 492/2011 zu erlangen.

2. Antrag der Fraktion DIE LINKE „Volle und wirksame Partizipation von Menschen mit Behinderungen und deren Organisationen garantieren“ vom 21.03.2022:

Die in dem Antrag der Fraktion DIE LINKE dargestellten Forderungen (Punkt 1.- 4.) nach einer vollen und wirksamen Partizipation von Menschen mit Behinderungen und deren Organisationen werden von der BAG SELBSTHILFE und ihren Mitgliedsverbände vollumfänglich begrüßt.

1) Partizipation in politischen Entscheidungsfindungsprozessen

Die Partizipation als eine aktive und informierte Beteiligung von Menschen mit Behinderung ist auf der Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention nicht nur auf die politischen Entscheidungsprozesse zu beschränken, sondern eine konsequente und vollständige Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention muss vielmehr alle Lebensbereiche umfassen, um eine gleichberechtigte Teilhabe der Menschen mit Behinderung zu gewährleisten.

Eine solche konsequente Umsetzung – gerade auch vor dem Hintergrund der UN-BRK – verlangt jedoch über die von der Fraktion zu Recht benannten transparenten Kriterien für eine volle, wirksame und barrierefreie Partizipation von Menschen mit Behinderungen nicht nur beispielsweise eine Verankerung in der Gemeinsamen Geschäftsordnung  der Bundesministerien (GGO) oder in Musterverfahrensordnungen, sondern für eine gleichberechtigte Teilhabe ist vielmehr sicherzustellen, dass das gesamte Spektrum von Menschen mit Behinderungen aufgesucht werden kann. Dies bedingt zum einen auch die vollständige Barrierefreiheit der Entscheidungsprozesse und andererseits das Empowerment der Organisationen der Menschen mit Behinderungen.

Auch sollte der Beteiligungsansatz konsequent behinderungsübergreifend verwirklicht werden, d.h. alle Behinderungsformen berücksichtigen. Beteiligungsvorgaben sollten sich nicht auf Gesetzgebungsprozesse beschränken, sondern sie sollten sich auch auf Verordnungen erstrecken.

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE sollte somit die Qualität der Partizipation verbessert werden durch die Erstellung entsprechender Standards. Konkret bedeutet dies, dass die Beteiligung an innerstaatlichen und auch an europäischen Gesetzgebungsprozessen verbindlich zu normieren ist und auch für andere Beteiligungsformate national und europäisch Standards sowie übergeordnete Prinzipien der Partizipation festzulegen sind. Auch auf europäischer Ebene wird das Partizipationsgebot bisher nicht konsequent umgesetzt; dies gilt sowohl für die europäische Gesetzgebung als auch für die Ausgestaltung europäischer Fonds. Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE besteht die Notwendigkeit zu klären, wie Behindertenverbände in europäische Politikprozesse eingebunden werden können. Zu klären sein dürfte darüber hinaus, wann Möglichkeiten der Partizipation gegeben werden, über welche Stellen sie geschaffen und welche Fristen gesetzt werden.

Übergeordnete Prinzipien der Partizipation (sog. „Partizipationsstandards“) beinhalten insbesondere:

  • eine konsequente Partizipation der Behindertenverbände in allen sie betreffenden Themenbereichen,
  • angemessene Beteiligungsfristen („Augenhöhe“),
  • Barrierefreiheit,
  • Transparenz,
  • Verbindlichkeit und Verlässlichkeit, 
  • Bereitstellung von Ressourcen  

2) Barrierefreie Partizipation

Es ist den Ausführungen im Antrag der Fraktion DIE LINKE dahingehend Recht zu geben, dass leider in der Realität die Entscheidungsfindungsprozesse, insbesondere im politischen Raum, sehr oft ohne die Stellungnahme-Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen stattfinden. Wo im Weiteren die Möglichkeit dazu gegeben ist, erfolgt dies zu kurzfristig, in nicht vollständig barrierefreier Form oder in einer Art und Weise, welche es nicht allen Betroffenen-Gruppen erlaubt, sich einzubringen.

Damit jedoch die Verbände behinderter Menschen ihre Anliegen auch tatsächlich auf „Augenhöhe“ einbringen können, sollten vorbereitende barrierefreie Unterlagen rechtzeig vorab zur Verfügung gestellt und zudem ausreichende Fristen zur Rückmeldung eingeräumt werden. Stellungnahmefristen von 14 Tagen oder kürzer dürfen somit nicht als Standard akzeptiert werden. Zudem sollten kürzere Fristen stets begründungspflichtig sein und die Begründung den Verbänden zur Kenntnis übermittelt werden.

Insoweit unterstützt die BAG SELBSTHILFE die Forderung der Fraktion DIE LINKE, dass die Fristen für die Rückmeldungen und Abgabe von Stellungnahmen von Organisationen und Verbänden im Rahmen der Verbändeanhörung deutlich zu verlängern sind!

Auch unterstützt die BAG SELBSTHILFE die Forderungen der Fraktion DIE LINKE, dass zu einer barrierefreien Partizipation nicht nur eine räumliche, sondern zudem auch eine kommunikative sowie digitale Barrierefreiheit gehören und in diesem Kontext alle Bedarfe für Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen abgedeckt werden müssen. Denn es ist leider bis dato Realität, dass gerade Menschen mit Behinderungen heute noch sehr oft in ihrem Alltag auf viele Barrieren stoßen, z.B. beim Einkaufen, beim Sport, beim Arztbesuch, beim Nutzen des ÖPNV, im Internet oder auch am Geldautomaten.

Auch muss weiterhin die digitale Barrierefreiheit konsequent umgesetzt werden, um den Menschen mit Beeinträchtigungen eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu garantieren. Tatsache ist, dass die Digitalisierung inzwischen fast alle Lebensbereiche erfasst, überall finden Prozesse der Digitalisierung statt.

Nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE ist es daher von hoher Relevanz, dass die besonderen Belange von Menschen mit Behinderungen, insbesondere auch von blinden Menschen bzw. Menschen mit Sehbehinderungen, aber auch von Menschen mit Hörbeeinträchtigungen oder mit kognitiven Einschränkungen insbesondere auch im digitalen Bereich von vornherein mit berücksichtigt werden.

Dies hat auch zur Konsequenz, dass mit einem verstärkten Einsatz die digitale Barrierefreiheit in allen Bereichen, mithin auch in der Privatwirtschaft und nicht nur im Verhältnis „Bürger – Behörde“ gesetzlich zu verankern ist.

Zudem sollte die Pflicht zur Barrierefreiheit und angemessenen Vorkehrungen in Beteiligungsprozessen nicht nur die Bundesministerien erfassen, sondern auch den Bundestag. Ferner sollten auch andere Träger der öffentlichen Gewalt (z.B. die Bundesagentur für Arbeit) in ihren Beteiligungsformaten Barrierefreiheit gewährleisten.

Im Rahmen verbindlich festzulegender Partizipationsstandards ist aus Sicht der BAG SELBSTHILFE und der Behindertenverbände auch das Transparenzgebot zu beachten, welches auf jeden Fall den berechtigten Belangen der Menschen mit Behinderungen sowie ihrer Verbände nach echter inhaltlicher Beteiligung in qualitativer Form Rechnung trägt.

3) Selbsthilfeförderung

Die politische Partizipation von Menschen mit Behinderungen kann nur gelingen, wenn es auch funktionsfähige Organisationsstrukturen gibt, die die notwendigen Willensbildungsprozesse organisieren können und die das Empowerment aller Menschen mit Behinderungen vorantreiben.

Aus diesem Grunde ist die Arbeit der Selbsthilfeorganisationen behinderter Menschen von herausragender Bedeutung für die politische Partizipation von Menschen mit Behinderungen in einem demokratischen Gemeinwesen.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Selbsthilfeförderung eine zentrale Rolle im Kontext der Partizipation spielt.

Leider läuft die Fördervorschrift des § 45 SGB IX bislang weitgehend leer. Entsprechendes gilt für die entsprechende Gemeinsame Empfehlung der BAR zur Selbsthilfeförderung, da lediglich für die Gesetzliche Krankenversicherung und für die Deutsche Rentenversicherung Fördervorschriften gibt.

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist es daher dringend angezeigt, dass auch für die übrigen Rehabilitationsträger Fördervorschriften geschaffen werden und dass dort ausdrücklich auf den Förderaspekt der Partizipation hingewiesen wird.

Bislang kommt im Fördergeschehen vor allem der Förderung durch die Gesetzlichen Krankenkassen nach § 20 h SGB V eine bedeutsame Rolle zu. Auch hier lehnen die Gesetzlichen Krankenkassen aber den Förderzweck der sozialpolitischen Interessenvertretung ab, weshalb auch in § 20 h SGB V eine entsprechende Klarstellung dringend erforderlich ist.

Insgesamt ist zu konstatieren, dass auch die Förderung nach § 20 h SGB V bislang nicht als eine verlässliche Finanzierungsgrundlage ausgestaltet ist, was u.a. schon darin zum Ausdruck kommt, dass die sog. Dachverbände der Selbsthilfe nach § 20 h SGB V nur zeitlich befristete Projekte beantragen dürfen.

4) Evaluation der Partizipationsregelungen

Schließlich ist auch die unter Punkt 4. genannte Forderung der Fraktion DIE LINKE aus Sicht der BAG SELBSTHILFE sehr zu begrüßen, künftig eine regelmäßige Evaluierung der vereinbarten Partizipationsregelungen zusammen mit Experten und Expertinnen in eigener Sache vorzunehmen.

Voraussetzung dafür ist aber nach Ansicht der BAG SELBSTHILFE die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für ausreichende, barrierefreie Mitwirkungsmöglichkeiten der Menschen mit Behinderungen an allen politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsfindungsprozessen. Nur wenn ein Vorgang klar definiert ist, kann dieser auch sachgerecht evaluiert werden.

5) Partizipationsfonds

Hinsichtlich der Förderung der Partizipation von Menschen mit Behinderungen und ihren Organisationen an politischen Willensbildungsprozessen darf der sog. Partizipationsfonds nicht unerwähnt bleiben.

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist es sehr zu begrüßen, dass sich die neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag auf eine Erhöhung des Partizipationsfonds nach § 19 BGG verständigt hat. Gerade der Partizipationsfonds nach § 19 BGG ist grundsätzlich ein positives Beispiel, wie notwendige Ressourcen für Beteiligungsprozesse bereitgestellt werden können. Dieser Fonds soll nämlich die Möglichkeit schaffen, Organisationsstrukturen zu entwickeln, Fachwissen aufzubauen und Menschen mit Behinderung für die Mitwirkung in politischen Entscheidungsfindungsprozessen zu qualifizieren.

Leider ist der Fonds zurzeit nur als Instrument für eine Projektförderung ausgestaltet, was einen nachhaltigen Aufbau von Strukturen und nachhaltige Qualifizierungsangebote verhindert. Überdies gestaltet sich die Mittelbeantragung und die Nachweisführung als extrem bürokratisch. Nicht selten werden Antragsteller noch 5 Jahre nach Projektende von Prüfteams des Projektträgers des Ministeriums mit Nachfragen und Rückforderungsandrohungen konfrontiert, was die Nutzung des Fonds zum Vabanque-Spiel werden lässt.  Eine Entbürokratisierung des Antragsverfahrens durch eine gesetzgeberische Klarstellung wäre daher sehr begrüßenswert.

 

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