Stellungnahme zum „EU-Kurzbericht“ Zeichen: BFIT VW 003-24 für den Zeitraum 23.12.2021 bis 22.12.2024

Für die Möglichkeit unsere Einschätzung zur Entwicklung der digitalen Barrierefreiheit im Hinblick auf den zu erstellenden EU-Kurzbericht für den Zeitraum 23.12.2021 bis 22.12.2024 abzugeben, möchte die BAG SELBSTHILFE herzlich danken.

Als Dachverband von 121 bundesweiten Selbsthilfeverbänden sowie 13 Landesarbeitsgemeinschaften vertritt die BAG SELBSTHILFE die sozial- und behinderungspolitischen Interessen von über 1 Mio. Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung sowie ihren Angehörigen. In diesem Zusammenhang setzt sich der Verband auch intensiv für die Ausgestaltung von Barrierefreiheit im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ein. Dabei ist der Fokus auch zunehmend auf die digitale Barrierefreiheit gelegt worden. Unter anderem wirkt die BAG SELBSTHILFE als Projektpartner an dem vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geförderten Projekt „Teilhabe 4.0“ mit, welches das Ziel verfolgt, digitale Barrierefreiheit in das Bewusstsein von Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen zu bringen, damit Menschen mit Behinderung am öffentlichen und am Arbeitsleben uneingeschränkt teilhaben können. Hierzu wird zwecks Sensibilisierung für das Thema sowie für eine fachlichen Befähigung ein (digitales) Schulungsprogramm kostenlos bereitgestellt, bei dem etwa die barrierefreie Gestaltung von Webseiten und Dokumenten, aber auch die rechtlichen Rahmenbedingungen als Schulungsinhalte vermittelt werden.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund, aber auch durch die langjährige Beschäftigung mit der Thematik in der politischen Gremienmitwirkung, im Zusammenhang mit Gesetzesvorhaben und nicht zuletzt durch die regelmäßigen Erfahrungsberichte von Menschen mit Behinderung, wonach Teilhabeeinschränkungen für sie aufgrund bestehender Barrieren in ihrem Alltag und in ihrem Berufsleben bestehen, konnte sich die BAG SELBSTHILFE im Laufe der Zeit ein umfassendes Bild vom Zustand und der Entwicklung im Bereich der generellen Barrierefreiheit und speziell der digitalen Barrierefreiheit machen. Dabei lässt sich zusammenfassend feststellen, dass der fortschreitenden Digitalisierung - die trotz der bekannten Schwierigkeiten gerade bei der Verankerung in der öffentlichen Verwaltung festzustellen ist - keine hinreichend adäquate Ausgestaltung digitaler Barrierefreiheit gegenübersteht. Oft mangelt es bereits am erforderlichen „Mitdenken“ und an dem Verständnis für die Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen.

Zu den aufgeworfenen Fragen im Einzelnen:

1. Wie schätzt Ihre Organisation den aktuellen Stand der digitalen Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen in der Bundesrepublik Deutschland ein?

Die in der Richtlinie (EU) 2016/2102 enthaltenen Fristen zur Umsetzung und Anwendung der dortigen Vorgaben zur barrierefreien Gestaltung von Webseiten und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen sind mittlerweile verstrichen. Dementsprechend sind die dort bzw. in den Behindertengleichstellungsgesetzen des Bundes und der Länder einschließlich der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) 2.0 enthaltenen Regelungen nicht nur allgemein bekannt, sondern werden auch grundsätzlich angewendet. Dass es insoweit Behörden auf Bundes-, Landes-   oder Kommunalebene gibt, die die Vorgaben überhaupt nicht anwenden, ist der BAG SELBSTHILFE nicht bekannt. Zumindest hat sie keine entsprechenden Beschwerden oder Rückmeldungen von Betroffenen erreicht.

Anders sieht es dagegen bei Stellen aus, bei denen zumindest auf den ersten Blick nicht erkennbar ist, ob sie unter den Begriff der „öffentlichen Stellen“ fallen, also etwa Beliehene oder auch privatrechtliche Organisationen, die staatliche Fördermittel erhalten. Auch stellt sich in diesem Zusammenhang zuweilen die Frage, für welche Inhalte die Barrierefreiheitsanforderungen erfüllt sein müssen (etwa bei Schulen für Bereiche, die nicht nur reine Online-Verwaltungsfunktionen darstellen). Hier sind es jedoch in erster Linie die betreffenden Stellen und Einrichtungen selbst, die sich mit der Frage an die BAG SELBSTHILFE oder an das Projektteam von „Teilhabe 4.0“ wenden, ob und inwieweit die Vorgaben zur digitalen Barrierefreiheit für die öffentliche Verwaltung auch für sie gelten.

Auch wenn Beschwerden über gänzlich fehlende digitale Barrierefreiheit oder das Fehlen anderer, damit verbundenen Erfordernisse (wie etwa die „Erklärung zur Barrierefreiheit“) nicht bekannt sind, so erreichen die BAG SELBSTHILFE jedoch zahlreiche Beschwerden über unzureichende Barrierefreiheit im Zusammenhang mit dem digitalen Angebot öffentlicher Stellen. Barrierefreiheit bedeutet nicht nur, Texte und bildliche Darstellungen für sehbehinderte Personen mit Sprachausgaben zu versehen oder die verwendeten Schriften vergrößern zu können. Die Vielzahl an Nutzungseinschränkungen, die aufgrund einer bestimmten Beeinträchtigung bestehen können, werden oftmals nicht erkannt und dementsprechend auch nicht oder nicht hinreichend angegangen. Insoweit ist aber nicht nur Kritik auf Seiten betroffener Nutzer vernehmbar. Auch auf Seiten der zuständigen Behörden besteht vielfach Unsicherheit, in welchem Maße und Umfang Barrierefreiheit erforderlich ist. So wird beispielsweise sehr häufig die Frage gestellt, ob und inwieweit Inhalte einer Webseite auch in Gebärdensprache und in Leichter Sprache wiedergegeben werden müssen.

Auffällig häufig wird auch Kritik im Zusammenhang mit der sog. „Erklärung zur Barrierefreiheit“ geäußert. So wird diese gesetzliche Vorgabe zwar auf nahezu allen Webseiten und Apps von Behörden formell beachtet, und in der Regel lässt sich bei Beschwerden oder Fragen zur Barrierefreiheit auch ein Kontakt mit der verantwortlichen Stelle herstellen. Allerdings werden die daraufhin einzuleitenden Maßnahmen oft als unzureichend kritisiert. Abgesehen von der Tatsache, dass der sog. Feedback-Mechanismus überhaupt häufig in Anspruch genommen wird oder werden muss, ist es für betroffene Nutzer misslich, wenn Sie zu ihrem geäußerten Anliegen keine oder nur eine unzureichende Antwort erhalten. Auch ist es keineswegs so, dass man sich von behördlicher Seite des Problems schnell annimmt und eine Lösung erarbeitet.

Die insoweit vorgesehene Möglichkeit, sich bei fehlender oder verspäteter Rückmeldung bzw. bei unzureichender Problembehandlung an eine Schlichtungs- oder Ombudsstelle zu wenden, wird von vielen Betroffenen als zu aufwendig angesehen. Das gilt erst recht, wenn es - soweit erforderlich - um die gerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen geht. Insoweit wird auffallend häufig auch von Behördenseite die Frage gestellt, welche rechtlichen Möglichkeiten zur Durchsetzung von digitaler Barrierefreiheit bestehen.

2. Was hat sich aus Sicht der Organisation in Bezug auf die digitale Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Erscheinen des ersten EU-Berichts 2021 verändert?

Nicht zuletzt wegen der inzwischen verstrichenen Fristen, die die erwähnte EU-Richtlinie und die innerstaatlichen Regelungen zunächst vorgesehen hatten, finden die Vorgaben zur digitalen Barrierefreiheit inzwischen überall grundsätzlich Beachtung. Ob damit auch die erforderliche Sensibilisierung bei den einzelnen Behördenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern für das Thema und dementsprechend ein Verständnis für die Belange von Menschen mit Behinderung, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind, entstanden sind, lässt sich dagegen nur schwer beantworten. Die Tatsache, dass auch regelmäßig Behördenvertreterinnen oder -vertreter das Schulungs- und Informationsangebot des eingangs erwähnten Projekts „Teilhabe 4.0“ nutzen, lässt vermuten, dass die Notwendigkeit zur Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zwar weitestgehend von den verantwortlichen Leitungen erkannt worden ist, dass die Umsetzung jedoch eher als reine Pflichtaufgabe wahrgenommen wird. Das zeigt sich darin, dass für die Umsetzung der Barrierefreiheitsanforderungen offensichtlich nur individuelle Zuständigkeiten innerhalb einer Behörde oder Behördeneinheit festgelegt werden, ohne dass das Thema Barrierefreiheit als Querschnittsaufgabe und zugleich als Qualitätsstandard für die Zuständigkeitsbereiche: Management, Einkauf, Öffentlichkeitsarbeit und Entwicklung angegangen wird.

3. Wie kann man aus Ihrer Sicht die digitale Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen in der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig verbessern?

Wie in der Gesellschaft insgesamt, so ist auch innerhalb von Behörden bzw. öffentlichen Stellen in der Regel ein Verständnis für die Belange von Menschen mit Behinderung häufig nur dann vorhanden, wenn man selbst oder eine nahe stehende Person betroffen ist bzw. wenn man fachlich / dienstlich mit der Thematik befasst ist. So verbinden viele Menschen mit dem Begriff „Barrierefreiheit“ in erster Linie nur die räumliche Zugänglichkeit zu einem Gebäude (z.B. durch Bereitstellung einer Rampe für Rollstuhlfahrer), können sich aber oftmals nicht vorstellen, was unter dem Begriff „digitale Barrierefreiheit“ überhaupt zu verstehen ist. Und selbst wenn hier eine grundsätzliche Notwendigkeit zu bestimmten Maßnahmen als angemessene Vorkehrungen i.S. von § 7 II BGG gesehen wird (z.B. barrierefreie Computersoftware), so beschränkt sie sich im Zusammenhang mit der Bereitstellung von Webseiten, häufig auf ein „Alternativangebot“ für blinde oder sehbehinderte Personen.

Hier gilt es aus Sicht der BAG SELBSTHILFE, zunächst ein generelles Verständnis für die Belange von Menschen mit Behinderung zu schaffen, und zwar auch von Behördenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern, die nicht offiziell oder vorrangig für das Thema Barrierefreiheit innerhalb ihrer Dienststelle „zuständig“ sind. Das bedeutet, dass vor allem auch in kleineren Behörden bzw. Behördeneinheiten Ansprechpartner zur gegenseitigen Unterstützung benannt und eine gegenseitige Unterstützung bei der Umsetzung und Anwendung der Vorgaben gefördert werden sollten. In diesem Zusammenhang hilft natürlich auch der Hinweis, auf die Vorteile für ältere Menschen, die von (digitaler) Barrierefreiheit in der Regel gleichfalls profitieren - vor allem wenn viele Dienstleistungen nur oder nahezu ausschließlich digital angeboten werden (Terminbuchung bei einer Behörde, Führerschein-Umtausch, Abgabe von Steuererklärungen, etc.).

Die Sensibilisierung für das Thema sollte sich im Übrigen auch auf die Tatsache erstrecken, dass es sich bei der Verpflichtung zur Herstellung von Barrierefreiheit sowie zur Schaffung angemessener Vorkehrungen – auch im Rahmen der Ausgestaltung von Webangeboten - um einen einklagbaren Rechtsanspruch handelt und nicht lediglich nur um freiwillige Serviceleistung der Behörde, die von der personellen und finanziellen Machbarkeit abhängt.

Wichtig erscheint auch, fachliche Unterstützung dauerhaft zu etablieren, und zwar in technischer Hinsicht (insbesondere in Bezug auf die Gestaltung barrierefreier Webseiten und Dokumente) als auch in rechtlicher bzw. formeller und inhaltlicher Hinsicht (Welche Vorgaben gelten? Fällt meine Organisation unter die verpflichtenden Regelungen? Welche konkreten Maßnahmen sind erforderlich? Welches Zusammenspiel besteht u.U. mit dem im Sommer 2025 in Kraft tretenden Barrierefreiheitsstärkungsgesetz?).

Ob und inwieweit die Bundesfachstelle für Barrierefreiheit hier personell ausreichend besetzt und dementsprechend in der Lage ist, den erforderlichen Unterstützungs- und ggf. Schulungsbedarf in ausreichendem Maße zu bieten, lässt sich von Seiten der BAG SELBSTHILFE nicht einschätzen. Es sollte jedoch dafür Sorge getragen werden, dass gerade auch schnelle und kurzfristige Unterstützung eingeholt werden kann, um etwa die von einem Nutzer kritisierten Barrieren beim Webangebot einer Behörde schnellstmöglich zu beseitigen.

Die genannten Maßnahmen sind letztlich natürlich auch im Interesse der betroffenen Nutzerinnen und Nutzer des Webangebots. So kann ein funktionierender Feedback-Mechanismus bei der „Erklärung zur Barrierefreiheit“ auch umgekehrt zu mehr Zufriedenheit führen, insbesondere dann, wenn erkennbar ist, dass die geäußerte Kritik ernst genommen und schnellstmöglich Abhilfe geschaffen wird.

 

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