1.2 Evidenzbasierte Medizin
Die Darstellungen zur evidenzbasierten Medizin sind ebenso zutreffend wie begrüßenswert. Allerdings wird die Abgrenzung zwischen Evidenz-based-Medicine im individuellen Behandlungsverhältnis und Evidence-based-Health-Care bei der ab-strakt-generellen Versorgungsgestaltung nicht klar herausgearbeitet.
Ebenso wie es bei der Evidenz-based-Medicine im individuellen Behandlungsverhältnis nicht nur auf die abstrakte Studienlage, sondern auf die individuelle Krankheitsgeschichte und Werthaltungen des einzelnen Patienten ankommt, bedarf es bei der Evidence-based-Health-Care der Reflektion, welche Auswirkungen Entscheidungen zur abstrakt-generellen Versorgung haben, um in diesem Kontext die Studienlage zu analysieren.
Auch die Ausführungen zur „praktischen evidenzbasierten Medizin“ beziehen sich ersichtlich auf Einzelfallentscheidungen in den Behandlungsgeschehen, nicht aber auf die allgemeinen Steuerungsentscheidungen im Gesundheitswesen, an denen das IQWiG als beratende Institution beteiligt wird.
Mit anderen Worten: Das IQWiG berät nicht die einzelnen Ärztinnen und Ärzte, sondern den Gemeinsamen Bundesausschuss. Im Methodenpapier fehlt insoweit ein Abschnitt zur „Evidence based Governance“.
Folglich bleibt auch völlig unklar, in welchem Verhältnis die Evidenzbasierung zur „Gesundheitsökonomie“ in Abschnitt 1.4 stehen soll.
2.2.1 Einbindung von Betroffenen in die Erstellung von IQWIG-Produkten
Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist es sehr zu begrüßen, dass im Abschnitt 2.2.1 zunächst hervorgehoben wird, dass die Einbindung der Betroffenen in die Erstellung von IQWiG-Produkten ein allgemeiner Standard des Instituts ist.
Es fehlt aber bislang noch ein überprüfender methodischer Ansatz, der diese Erkenntnisquelle näher strukturiert. So wäre auch hier eine Evidenzleiter denkbar, die von einem Einzelinterview eines/einer Betroffenen über die Einbindung des aggregierten Erfahrungswissens von Patientenorganisationen bis hin zur (allerdings nur selten realisierbaren) Vollerhebung der Ansichten aller Betroffenen der jeweiligen Betroffenengruppe reicht.
Ebenfalls methodisch noch nicht ganz klar gefasst, ist die Frage, welche Erkenntnisinhalte denn für die Arbeit des Instituts über die Einbindung von Betroffenen gewonnen werden sollen.
Offenbar wird im Methodenpapier unter den Betroffenen die jeweilige Gruppe der (potentiell) Erkrankten verstanden.
Der Begriff der Erkrankung wird in der Medizintheorie seit langem sehr intensiv mit den unterschiedlichsten Definitionsversuchen diskutiert. Allgemein anerkannt ist dabei jedoch, dass mit dem Auftreten einer Erkrankung die Lebensumstände der Menschen teilweise gravierend verändert werden, dass sich nicht nur die persönliche Lebensplanung, das Verhältnis zum sozialen Umfeld, aber auch die Werthaltungen erheblich ändern können. Umgekehrt können auch medizinische Interventionen ebenso gravierende Auswirkungen haben.
Im Abschnitt 7.2.3 „Patientenwege“ werden diese Dimensionen durchaus im Methodenpapier auch im Einzelnen angesprochen.
Das Wissen zu all diesen Umständen und Veränderungen ist nicht nur für das praktische Handlungsgeschehen im Einzelfall essentiell, sondern auch für die abstrakt-generelle Bewertung von Behandlungsoptionen im HTA-Verfahren und für die Erstellung von Gesundheitsinformationen. Die Patientenrelevanz von Endpunkten kann bspw. gar nicht adäquat bestimmt werden, wenn nicht die Patientenperspektive umfassend in all ihrer Komplexität analysiert wird.
Ohne die Berücksichtigung der Patientensicht können all diese IQWIG-Produkte nicht adäquat erstellt werden.
Diese in methodischer Sicht wichtige Feststellung fehlt im Abschnitt 2.2.1, in dem lediglich deskriptiv vermerkt wird, wie die Einbindung Betroffener stattfinden kann, bzw. stattfindet.
Dies ist deshalb besonders problematisch, weil ohne eine methodisch abgesicherte Einbindung der Patientenperspektive die Gefahr besteht, dass Studienbewertungen vom Bearbeiter/von der Bearbeiterin auf der Basis sog. Alltagstheorien zur jeweiligen Erkrankung erfolgen. Man stellt sich dann vor, was für einen Betroffenen wohl wichtig ist oder welche Bedeutung eine bestimmte Einschränkung hat. Ein solches Vorgehen jedoch ist schlicht unwissenschaftlich bzw. genügt nicht dem Erfordernis, dass sich Wissenschaftler stets kritisch mit sog. Vorverständnissen ihres Tuns auseinanderzusetzen haben.
Zwar wird an der einen oder anderen Stelle im Methodenpapier angesprochen, dass zur Klärung dieser Frage qualitative Studien herangezogen werden können oder Betroffene befragt werden können. Es fehlt aber insoweit an einer klaren methodischen Definition der Herangehensweise.
Es wäre wünschenswert, wenn das Methodenpapier hier eine Präzisierung erführe.
Auch die Möglichkeit, Patientenerfahrungen über den Austausch in Selbsthilfegruppen und -organisationen zu aggregieren, wird im Methodenpapier nicht hinreichend erfasst. Dies zeigt sich vor allem im 3. Absatz des Abschnitts, der sachlich unrichtig, zumindest aber irreführend ist. Der Absatz muss vielmehr lauten:
„Bei der Auswahl der Teilnehmenden wird der Fokus auf tatsächlich Betroffene gerichtet. Wo diese nicht selbst befragt werden können (z.B. bei Kleinkindern oder schwer Demenzkranken), sind nahe Angehörige zu befragen.
Menschen, die nicht selbst Patienten sind, können nicht in vergleichbarer Weise beurteilen, wie Betroffen Symptome empfinden, ihre Funktionen und Aktivitäten wahrnehmen können oder in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt sind.“
Wünschenswert wäre es schließlich auch, wenn die im 5. Absatz angesprochenen Konsultationsgespräche auf der Basis einer methodisch abgesicherten Grundlage stattfinden würden. Zielsetzungen, Fragestellungen, Ergebnisverlauf und Ergebnissicherung sollten auf der Basis eines ex ante- und ex post-Sachverhaltes analysiert werden. Nur so kann der Erkenntnisgewinn, der durch die Konsultationen erfolgt, objektiv erhoben werden und nur so kann vom Bearbeiter auch konzentriert reflektiert werden, wo seine Alltagstheorien zur Erkrankung und ihren Folgen bestätigt und wo sie widerlegt wurden. Denkbar ist auch, dass nach dem Konsultationsgespräch Unklarheiten fortbestehen, so dass weitere Erhebungen notwendig sind.
3. Nutzenbewertung medizinischer Interventionen
Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist es elementar, dass sich der Nutzen von Behandlungsmethoden anhand patientenrelevanter Endpunkte bemisst. Diese Auffassung gilt jedoch für den Nutzen von diagnostischen Methoden in einer spezifischen Art und Weise: Hier liegt der Nutzen aus Sicht der Patientenvertretung in der besseren Diagnostik, also dem besseren Erkennen der Krankheit und der für das Ausmaß bedeutsamen Einstufung. Die gegenteilige Auffassung des IQWIG, wonach auch der Nutzen von diagnostischen Maßnahmen zunächst von der Existenz und auch dem Nutzen einer Behandlungsmethode abhängt ist und danach auch noch die patientenrelevanten Endpunkte in Abhängigkeit vom Testergebnis zu bestimmen sind (S. 44), wird aus zwei Gründen abgelehnt: Zum einen wäre bei dieser Auffassung die Erstattung von Diagnostika bei seltenen Erkrankungen, für die es noch keine Behandlung gibt, ausgeschlossen. Damit mutet man den Betroffenen nicht nur oft jahrelange Diagnoseodysseen auf behandelbare Erkrankungen zu, sondern will ihnen dann, wenn sich der Verdacht auf eine bestimmte Erkrankung verdichtet, die entsprechende Diagnostik verweigern bzw. ihnen auferlegen, diese aus eigener Tasche zu bezahlen. Dies ist nicht nachvollziehbar.
Zum anderen hat diese Auffassung zur Folge, dass es auch bei behandelbaren Krankheiten statistisch keinen Nutzen gibt, wenn sich die Behandlung aufgrund der Diagnostik nur in Einzelfällen ändert. Denn dann wird es regelmäßig keine statistisch signifikante Verbesserung der patientenrelevanten Endpunkte geben; für den einzelnen Patienten ist die Diagnostik jedoch dennoch oft lebensentscheidend, da eben nicht von vorneherein ausgeschlossen werden kann, dass er in die Ausnahmegruppe fällt, in der sich die Behandlung aufgrund des Testergebnisses ändert.
3.8 Potentialbewertung
In Kapitel 3.8 sind die spezifischen Evidenzstufen (gering, sehr gering, minimal) zur Potenzialbewertung und deren Bedeutung nach § 137e nach Antragstellung durch externe Anbieter durch das IQWIG beschrieben.
Hintergrund ist die zutreffende Überlegung, dass ausreichende Erkenntnisse vorliegen müssen, um einen möglichen Nutzen der jeweiligen Methode erkennen zu lassen.
Im Methodenpapier wird aber aus Sicht der BAG SELBSTHILFE nicht hinreichend herausgearbeitet, dass der Bezugspunkt der Potentialbewertung nicht die Anwendung der Methode im Behandlungsgeschehen ist, sondern die Frage, ob es sich lohnt, dass zur Gewinnung weiterer Erkenntnisse eine Studie geplant werden sollte.
Hier ist zu beachten, dass auch das Nichtwissen ein Risiko darstellt. Die Ablehnung eines Potentials bedeutet mithin eine Absage an eine weitere Erkenntnisgewinnung unter abgesicherten Studienbedingungen.
Damit geht dann das Risiko einer Anwendung unter weniger abgesicherten Bedingungen bspw. in Selektivverträgen einher oder unter Umständen die Nutzung traditioneller Methoden ohne adäquate Evidenzgrundlage.
Aus diesem Grunde sollte der Betriff der „Ergebnissicherheit“ mehrdimensional verstanden werden. Eine reine Bezugnahme auf den Status quo der bestehenden Studienlage wird der Komplexität der Entscheidungssituation nicht gerecht.
6. HTA-Berichte
Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist es grundsätzlich sehr zu begrüßen, dass mit dem Themencheck die Möglichkeit geschaffen wurde, dass auch Bürgerinnen und Bürger eine Analyse der Erkenntnislage zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden anstoßen können.
Weiterentwicklungsbedarf wird aber noch hinsichtlich der Frage gesehen, was aus den entsprechenden Produkten dann folgen soll.
Leider sind die Produkte an sich für die maßgeblichen Patientenorganisationen nach § 140f SGB V als Grundlage für die Wahrnehmung des Antragsrechts beim Gemeinsamen Bundesausschuss in der Regel so nicht ohne weiteres nutzbar.
7.3 Informationsbeschaffung zur Erstellung von Gesundheitsinformationen
Wie bereits zu Abschnitt 2.2.1 ausgeführt wurde, können insbesondere die Gesundheitsinformationen des IQWIG nur dann ihren Zweck adäquat erfüllen, wenn die Sicht der Betroffenen, insbesondere deren Informationsbedarfe, Ausgangspunkt der Überlegungen ist.
Auch hier geht es darum, nicht abgesicherte Vorverständnisse der Autorinnen und Autoren, d.h. deren Alltagstheorien zu jeweiligen Erkrankung, deren Folgen und den unterstellten Informationsbedarfen der Betroffenen, kritisch zu reflektieren und ggf. zu falsifizieren. Ohne diese Problematik methodisch aufzubereiten, wird dies im Abschnitt 7.3 durchaus anerkannt, indem ausgeführt wird, dass es für die Autorinnen und Autoren darum geht, „sich so gut wie möglich in die Situation Betroffener zu versetzen“. Auch hier wird das Fehlen einer stringenten Methodik deutlich:
Richtig wird zwar ausgeführt, dass qualitative Literatur, systematische Übersichten oder Primärstudien hier weiter helfen können.
Kurioserweise wird jedoch im Abschnitt 7.4 weder die Befragung Betroffener noch die Einbindung von Selbsthilfeorganisationen angesprochen, obwohl dies seit langem gängige Praxis ist. Andererseits wird am Ende von Abschnitt 7.2 betont, dass das primäre Ziel der Methode, ein gutes Verständnis für Patientinnen und Patienten zu entwickeln, sei.
Auch hier zeigt sich wieder das allgemeine Defizit eines methodischen Gesamtrahmens für die Einbindung Betroffener in die Erarbeitung der IQWiG-Produkte.
Ein evidenzbasiertes Vorgehen erfordert, die Alltagstheorien der Autorinnen und Autoren zur Patientenperspektive anhand aller verfügbaren Erkenntnisquellen zu überprüfen. Hierzu zählen neben der Literaturanalyse, der Auswertung von Übersichtsarbeiten und Einzelstudien selbstverständlich auch die Konsultation von Betroffenen und die Einbindung von Selbsthilfeorganisationen.